Die diesjährige Bundesdelegiertenkonferenz (BDK) der Grünen war geprägt von den vielen Herausforderungen dieser Zeit und dem Ringen um Ideal und Wirklichkeit. Drei Delegierte aus dem KV Freiburg berichten über ihre Eindrücke zur diesjährigen BDK.
Klassische Themen – neue Herausforderungen; von Carsten Drecoll
In den Medien war zu lesen, dass die Grünen ihre klassischen Themen aufgeben würden oder müssten. Schaut man sich jedoch die großen Themenblöcke der BDK im Oktober in Bonn an, sind es die klassischen, alten Themen gewesen, die uns seit der Gründung in den Achtzigerjahren beschäftigen: Energie & Atomkraft, Krieg & Frieden, eine gerechte Gesellschaft. Die politische Situation, in denen sich unsere Partei jedoch damit befassen muss, ist eine völlig neue.
Ein Jahr lang ist die Ampelregierung jetzt im Amt und regiert in einer Ausnahmesituation, wie es sie so bisher nicht gegeben hat. Denn das alte Modell der Bundesrepublik – Energie kommt aus Russland, Sicherheit von den USA und die Waren & Produkte aus China – kommt an seine Grenzen. Neben diesen Problemen haben weitere Krisen wie insbesondere die Ereignisse im Iran eine zentrale Rolle auf der BDK gespielt.
Der Bereich Frieden und Sicherheit, der am Samstag auf der Tagesordnung stand, war dabei persönlich für mich am klarsten zu beantworten. Für mich war auch in den Achtzigerjahren klar, dass NATO und Bundeswehr unverzichtbar sind und dass Frieden nicht ohne Waffen erreichbar ist, sondern durch Kräftegleichgewicht und Gerechtigkeit. Dass sich hinter dieser Maxime heute die große Mehrheit der grünen Delegierten stellen kann, zeigt, dass die Partei zu einer realistischen und pragmatischen Politik gekommen ist.
Das Problemgebiet Energie hingegen war umstrittener. Das Fehlen des russischen Gases zeigt, wie sehr die konservative Vorgängerregierung die zeitgerechte Modernisierung Deutschlands verhindert und blockiert hat. Der Preis, den wir dafür heute zahlen müssen, lautet: AKW-Streckbetrieb – und tatsächlich noch schlimmer: Wiederinbetriebnahme etlicher Kohlekraftwerke. Ein Schritt, der angesichts der Klimakatastrophe und des zeitlich engen Fensters, um die Erderwärmung begrenzen zu können, sehr schmerzt. Auch hier sind die Delegierten dem Leitantrag gefolgt – selbst in dem Punkt, der den Kompromiss mit RWE betrifft und Lützerath zum Abbaggern freigibt.
Die grüne Partei steht im Fokus der gesellschaftlichen Debatte, das haben die Gastreden deutlich gemacht, von DGB-Chefin Yasmin Fahimi bis zum BDI-Präsidenten Siegfried Russwurm, von der Vertreterin von „Memorial“ bis hin zu Luisa Neubauer, die sich ihren Auftritt nicht einfach gemacht hat.
Pragmatismus und Vernunft haben uns Grünen bisher nicht geschadet, wie die Wahlen in NRW und Niedersachsen gezeigt haben. Im Gegenteil: Wohin Unvernunft und sinnfreie Symbol-Projekte führen, zeigt uns gerade die FDP.
Die Aufgaben bleiben gleichwohl riesig: Aufbau der erneuerbaren Energien und ein modernes Stromnetz sind klar Aufgabe Nummer eins. Der Aufbau stärkerer Verteidigungsfähigkeiten im NATO-Bündnis kommt gleich danach. Unangesprochen blieb aber die Frage, wie wir in unseren Industrienationen mit deutlich weniger Ressourcen, Energieverbrauch und Rohstoffen auskommen wollen, wenn schon die jetzige Energiekrise die Fundamente unserer Gesellschaft erschüttert. Von einer nachhaltigen Gesellschaft sind wir hier noch sehr weit entfernt.
Im Herzen der Demokratie; von Petra Essenfelder
Bundesdelegiertenkonferenz! Da war ich nun also. Eine unter rund 800 Menschen aus der ganzen Republik und eine unter mehr als 300 davon, die ebenfalls zum ersten Mal an einer BDK teilnahmen! Vielleicht war ich also nicht ganz die Einzige in der großen Konferenzhalle des World Conference Centres in Bonn, die, was politisch aktives Engagement und Parteimitgliedschaft betrifft in der Tat ein Küken ist! Zum Glück war ich „nur“ Ersatzdelegierte, d.h. nur wenn eine*r unserer sechs Freiburger Delegierten bei einer Abstimmung nicht anwesend sein konnte, wurde mir deren / dessen Stimmrecht übertragen. Und um ehrlich zu sein: bei einigen Abstimmungen war ich ziemlich erleichtert, dass alle da waren und ich mich nicht auf eine Entscheidung festlegen musste. Denn es ging in den zweieinhalb Tagen um epochale Themen, die mich auch emotional umtreiben. Und die großartigen Rednerinnen und Redner brachten in beeindruckender und mitreißender Weise ihre jeweiligen Standpunkte und Argumentationen vor.
Das Ringen um die individuelle, für sich richtige Entscheidung konnte man bei den Abstimmungen förmlich fühlen. In diesen Momenten wurde es still und die Ernsthaftigkeit und Konzentration in der Halle waren greifbar. Mein Eindruck ist, dass es bei den Abstimmungen häufig letztlich darum ging, wo wir in unserem Herzen als Grüne im Grunde alle hinwollen, sowie um die der Realität angepasste Variante dieses Ideals. Für mich ist genau das Politik: das Ideal nicht aus den Augen verlieren und doch immer wieder den Weg anpassen, um möglichst viele Menschen und Gruppen mitzunehmen. Denn: wir leben in einer – zugegeben, ja, anstrengenden – Demokratie. Häufig lese und höre ich, dass die Grünen ihre inhaltlichen Ideale verraten würden und manchmal stelle ich mir ebenfalls diese Frage. Auch die Demonstrationen vor dem World Conference Centre haben diese Haltung zum Ausdruck gebracht.
Ich sehe und höre aber auch, wie sich unsere Politiker*innen erklären und positionieren und finde, dass sie unseren Vertrauensvorschuss, den sie zweifelsohne im Moment auf ihrer Seite haben, benötigen und verdienen. Und dass um die schrittweise Realisierung auf dem Weg in Richtung Ideal innerhalb unserer demokratischen Strukturen hart gerungen wird. Keine andere Partei tut dies so transpartent und authentisch.
Vor diesem Hintergrund beobachten zu können, wie nachvollziehbare und starke Argumentationen jeweils in Rede und Gegenrede zueinander standen und wie doch die Abstimmungsergebnisse angenommen und respektiert wurden und wir trotz unterschiedlicher Haltungen alle durch die großen Linien und grundlegenden Werte der Partei vereint DIE GRÜNEN sind, war für mich eine beeindruckende und in diesen Zeiten wohltuende Erfahrung.
In dieser Partei bin ich genau richtig!
Eine BDK in schwierigen Zeiten; von Albrecht Brandenburg
Die diesjährige Bundesdelegiertenkonferenz war geprägt von den vielfältigen Herausforderungen dieser Zeit: Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, die Probleme der Energieversorgung, die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine und an Saudi-Arabien, die Proteste im Iran und natürlich die Klimakrise, um nur einige zu nennen.
Die Diskussion zu diesen schwierigen Themen und insbesondere zu den Widersprüchen zwischen grünen Grundsätzen einerseits und den Erfordernissen der aktuellen weltpolitischen Situation andererseits sind immer sachlich und ohne persönliche Angriffe geblieben. Dazu beigetragen hat, dass sehr offen argumentiert wurde und die Widersprüche der aktuellen Politik zu den Grundsatzpositionen nicht beschönigt wurden. Ein Beispiel ist Steffi Lemkes Rede zu der Zumutung, die die Laufzeitverlängerung der AKWs darstellt.
Bemerkenswert fand ich, dass die zur Abstimmung gestellten Anträge ganz überwiegend mit großen Mehrheiten angenommen oder abgelehnt wurden. Nur in wenigen Fällen war die Mehrheit anhand der Handzeichen nicht unmittelbar erkennbar, so dass es nötig wurde, die Stimmen mithilfe der digitalen Abstimmung auszuzählen. Insofern ist die Partei trotz der anstehenden schwierigen Fragen sehr einig geblieben und hat sich in aller Regel klar zu dem Regierungskurs bekannt.
Die Veranstaltung wurde durch externe Redner bereichert. Dazu gehörten die sehr berührenden Reden von Irina Scherbakowa von „Memorial“ und von Oleksandra Matwijtschuk vom ukrainischen „Center for Civil Liberties“, die beide dieses Jahr mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurden. Nicht zuletzt hat uns Louisa Neubauer von „Fridays for Future“ die Notwendigkeit einer wesentlich radikaleren Klimapolitik eindringlich vor Augen geführt. Ricarda Lang hat dieses Thema aufgenommen und auf die unterschiedlichen Möglichkeiten und Begrenzungen einer Protestbewegung einerseits und einer Regierungspartei andererseits hingewiesen. Es bleibt uns die Einsicht, dass zur Rettung des Klimas mehr geschehen muss als die reale Politik mit den momentanen Mehrheiten ermöglicht.
Eine interessante Ergänzung zu den Reden und den Abstimmungen war die Möglichkeit, in kleineren Gruppen Gespräche mit Staatssekretären aus den von Grünen geleiteten Ministerien zu haben. Das erlaubte einen unmittelbaren Einblick in die konkrete Regierungspolitik mit den vielen praktischen Problemen, die man in einer Sicht von außen kaum mitbekommt.
Mit 800 Delegierten stellt die BDK zweifellos eine organisatorische Herausforderung dar. Die vielen Anträge, die eingebracht worden waren, mussten vorab sortiert, teilweise in gemeinsame Anträge zusammengefasst und von der Anzahl her deutlich reduziert werden, um in der gegebenen Zeit abgestimmt zu werden. Die Gespräche mit den Antragstellerinnen und Antragstellern zur Zusammenlegung von Anträgen haben für die Antragskommission unzählige Gespräche mit ihnen bedeutet, die teilweise noch während der BDK angedauert haben. Eine Mammutaufgabe, die sehr professionell gelöst wurde.
Ich nehme eine Erinnerung an mitreißende Reden mit. Beispielhaft möchte ich die von Ricarda Lang, Robert Habeck, Omid Nouripour und Annalena Baerbock nennen. Außerdem war es sehr bereichernd, die vielfältigen Diskussionen im Plenum und in Gesprächen am Rande der BDK zu erleben. Es hat mir einen tieferen Einblick in die Parteiarbeit und unzählige Informationen zum politischen Geschehen mitgegeben. Auch wenn einiges an Sitzfleisch nötig ist und sowohl die Nahrungsaufnahme als auch der Schlaf für ein Wochenende zu kurz kommen, ist es sehr empfehlenswert, eine grüne BDK mitzuerleben.
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