„Das Unsagbare“

GIF Sonderreihe zur Erinnerungskultur in Deutschland


Nicola Hanefeld hat erst sehr spät von ihren jüdischen Wurzeln erfahren. Für die GIF Sonderreihe „Erinnerungskultur in Deutschland“ erzählt sie die Geschichte ihrer deutschsprachigen tschechisch-jüdischen Familie und reflektiert, was dies für ihr Verständnis von Erinnerungskultur bedeutet.

Als ich in den 1960er und 1970er Jahren in England aufwuchs, wusste ich nichts von meinem jüdischen Erbe. Meine Mutter ist Engländerin. Als Kind wusste ich nur, dass mein Vater im Alter von 13 Jahren nach England „gekommen“ war, aber nicht warum. Erst als ich ungefähr 18 Jahre alt war, dämmerte es mir, dass meine Familie väterlicherseits jüdisch war; sie stammten aus dem Sudentenland, damals Teil der Tschechoslowakei, flohen vor den Nazis und vor dem Krieg nach England. Aber in meiner Familie wurde über diesen Teil der Vergangenheit nie gesprochen. Es war für mich ein Schock, als mir im Jahr 2004 mein 79-jähriger todkranker Vater ein Dokument schickte, in dem er auf Verwandte hinwies, die von den Nazis ermordet worden waren. Ich hatte nie von diesen Familienmitgliedern gehört. Er schrieb mir zum ersten Mal von zwei seiner Tanten, Grete und Else (Geschwister seines Vaters Bruno Vogel), und seiner Oma Therese Wilhelm. Als sich sein Leben dem Ende neigte, schien mein Vater bislang unausgesprochene Informationen über seine traumatische Familiengeschichte an die nachfolgende Generation weitergeben zu wollen. Er tat es vor allem, indem er mir den Pass seiner im Konzentrationslager ermordeten Tante überließ.

Nicola Hanefeld

Recherchieren, um Menschen ihre Geschichte zurück zu geben

In jahrelangen Recherchen habe ich die Schicksale meiner verlorenen Verwandten wiedergefunden. Sie bekamen allmählich ihre Identität und ihre Geschichte zurück. Manche waren ermordet worden, manche waren rechtzeitig geflohen und hatten überlebt als Flüchtlinge. Der verkümmerte Stammbaum, mit dem ich aufgewachsen war, entfaltete sich in meinem Kopf jetzt erst zu seiner wahren Größe. Erstaunlicherweise stürzten mir, sobald ich mit der Suche begann, die Dokumente aus den Archiven geradezu entgegen – ich musste nur leicht ‚kratzen‘ und schon öffneten sich viele Türen zu den bislang verschwiegenen Räumen der Familiengeschichte meines Vaters.

Während  meiner Recherchen überkamen mich immer wieder heftige Wellen verwirrender Traurigkeit, ich wurde geradezu von Weinkrämpfen überfallen. Die Wahrheit über die furchtbaren Erfahrungen und Schicksale meiner jüdischen Ahnen zu erfahren, dies war einschneidend für mich. Dies veränderte meine Sicht auf meine sudetendeutschen, jüdischen Großeltern. Es veränderte auch meine Sicht auf die deutsche Erinnerungskultur.

Ein Reisepass und der Beginn einer langsamen Enthüllung

Es war der Reisepass seiner Tante, den mir mein Vater 2004 geschickt hatte. Sie hieß Grete Lanzer. Sie war in unserer Familie nie erwähnt worden. Auch ihre Schwester Else war nie erwähnt worden. Ich fand heraus, dass Grete und Else mit ihren Ehemännern zusammen in Prag gelebt hatten. Dann trennten sich ihre Wege. Grete wurde mit ihrem Mann in Theresienstadt interniert. Zwei Jahre später, im Dezember 1943, wurde sie nach Auschwitz transportiert und dort sechs Monate später vergast. Else und ihr Mann hingegen wurden in das Ghetto Łódź in Polen gebracht, wo sie starben. Die Großmutter meines Vaters, Therese Wilhelm, wurde im Alter von 76 Jahren von Theresienstadt nach Treblinka transportiert, wo sie vergast wurde. Es brauchte viel Zeit, bis ich all diese Informationen, die ich in mühsamer Recherchearbeit herausgefunden hatte, einigermaßen „verdauen“ konnte. 

Der Stammbaum der deutschsprachigen tschechisch-jüdischen Mutter meines Vaters führte mich bis ins Archiv der ETH Zürich. Nach Zürich war einer ihrer Brüder – er hieß Alfred – geflohen, nach drei Jahren in französischem Exil  war er illegal in die Schweiz mit seiner Familie eingereist, weil Frankreich Juden an Nazi-Deutschland auslieferte.

Ich entdeckte zahlreiche weitere Berichte von überlebenden Verwandten, die über ihre Kriegserlebnisse berichteten. Sie hatten „nur“ die leisere Seite des Holocaust erlebt: Flucht, Enteignung und die damit verbundenen Identitätsfragen.

Die Firma Gütermann aus Gutach als Teil der Familiengeschichte

Dass die Geschichte meines Vaters und meiner jüdischen Großeltern auch indirekt mit dem Schwarzwald verknüpft war, hängt mit der Firma Gütermann mit Stammsitz in Gutach / Waldkirch zusammen. Die 1864 gegründete Firma war bekannt für die Produktion von Nähseide. Mein Großvater Bruno Vogel (1885 – 1979) hatte vor dem 1. Weltkrieg einen Enkel des Firmengründers  während seines Maschinenbaustudiums im sächsischen Mittweida kennengelernt. Daraus entstand eine lebenslange Freundschaft. Mein Großvater Bruno gründete ca. 1920 eine Gütermann-Niederlassung in Troppau in der damaligen Tschechoslowakei. Seine enge Geschäftsverbindung mit der Firma Gütermann ermöglichte ihm 1939 die rechtzeitige Flucht nach England. Dort konnte er weiter für die Firma Gütermann arbeiten. Seine Einwanderung und die Einwanderung seiner Frau und seiner Kinder wurden durch diese Geschäftsbeziehung und Freundschaft erleichtert.

Die Firma Gütermann wurde 2014 von American & Efird übernommen und heißt jetzt A&E Gütermann. Ich wollte mehr über die Niederlassung in Troppau wissen, doch das Unternehmen konnte oder wollte mir nicht weiterhelfen. Es gibt drei Bücher über die Gütermann Firmen- und Familiengeschichte von Alexandra Gütermann. Die Auskunft, dass man nichts wisse über die damalige Niederlassung in der Tschechoslowakei, ist für mich nicht glaubhaft.  

Fazit:

Durch meine Forschungen wurde mir klar, wie sehr die Geschichte die Gegenwart durchwirkt – deswegen müssen wir sie verstehen. Ich finde, kein anderes Land der Welt stellt sich seiner Geschichte so konsequent wie Deutschland. Jedoch glaube ich, dass genügend ritualisierte Gedenktage stattgefunden und Kränze niedergelegt wurden. Mich interessieren viel mehr die Einzelschicksale. Sie bringen den Holocaust emotional viel näher als abstrakte Zahlen der zigtausenden ermordeten Jüdinnen und Juden. Da die letzten Zeitzeug*innen bald nicht mehr bei uns sein werden, ist es umso wichtiger, dass die 2. und 3. Generation, die Nachfahren der Überlebenden, beginnen zu erzählen. Es ist so immens wichtig nie zu vergessen, zu welchen Gewalttaten und zu welch unvorstellbarem Leid  Rassismus und Antisemitismus führen können. Hierbei spielt das NS-Dokumentationszentrum, das in Freiburg entsteht, eine wichtige regionale Rolle. Ich bin auch Julia Wolrab, Leiterin des NS-Dokuzentrums, sehr dankbar, dass sie meine Familienforschung so engagiert unterstützt hat.

Als Nachkomme von Menschen, die dem Holocaust rechtzeitig entkommen sind, habe ich über meine Forschungen geschrieben und versuche zu verstehen, warum meine Familie den Holocaust verschwiegen hat. Meine Manuskript heißt auf English The Unspeakable (‚Das Unsagbare‘). Ich fülle das Schweigen, um sicherzustellen, dass wir nie vergessen, wozu Rassismus und Antisemitismus führen können. Die historischen Ereignisse in dieser Geschichte haben eine beunruhigende Relevanz für die Gegenwart: Putins brutaler Krieg gegen die Ukraine weckt in vielen Menschen furchtbare Erinnerungen und Assoziationen zu etwas, wovon wir geglaubt haben, dass es im 21. Jahrhundert nicht mehr möglich sei in Europa.

Autorin: Nicola Hanefeld

Nicola ist Engländerin, langjähriges grünes Mitglied im KV Freiburg und Coach für Alexander-Technik. Sie hat ihren PhD in England abgeschlossen zum Thema Alexander-Technik und die Zeit nach der Geburt.


Worum geht es in der GIF-Sonderreihe „Erinnerungskultur in Deutschland“?

Die Erinnerung an den „Holocaust“ und die Verbrechen des Nationalsozialismus besitzen in Deutschland als dem Land der „Täter“ zu Recht einen überragenden Stellenwert für die demokratische Erziehung zu Pluralismus, Toleranz und Menschenrechten. „Nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus, nie wieder Verfolgung von Minderheiten“ – das ist die DNA des Grundgesetzes. Die „Singularität des Holocaust“ und seine zentrale Bedeutung für die nationale Identität der BRD wird in den letzten Jahren zunehmend aufgebrochen durch zugewanderte Menschen: Sie bringen eigene und damit auch neue und andere historische Perspektiven mit ein. Was also bedeutet Erinnerungskultur heute in einem Einwanderungsland wie Deutschland? In Freiburg entsteht erstmals ein NS-Dokumentationszentrum, das vermutlich Ende 2023 eröffnet wird und die Geschichte der NS-Diktatur im regionalen Kontext aufarbeitet. Im Vorfeld der Eröffnung bietet sich uns die Gelegenheit, das Thema Erinnerungskultur neu zu beleuchten und nach einer Erweiterung des Begriffes zu suchen. Das NS-Dokuzentrum wurde von Anfang an stark unterstützt und vorangebracht von der Grünen Fraktion im Freiburger Gemeinderat.

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