Friedensarbeit in unserer Einwanderungsgesellschaft

GIF Sonderreihe zur Erinnerungskultur in Deutschland.

Die Geschichtslehrerin Rosita Dienst-Demuth unterrichtete bis vor wenigen Jahren an der Lessing-Realschule in Freiburg. Durch ein Interview der Jüdin Else Pripis im Blauen Haus Breisach erfuhr sie im Jahr 2001, dass ihre Schule in der Zeit des Nationalsozialismus eine Zwangsschule für jüdische Kinder gewesen war – für sie der Anlass, eine Geschichtswerkstatt an der Realschule zu gründen. In diesem Beitrag berichtet sie von ihren ermutigenden Erfahrungen: Die Erinnerung an das Fluchtschicksal der jüdischen Kinder kann ein Gefühl der solidarischen Verbundenheit unter Einwander*innen wecken.

Die Erinnerung an die „Zwangsschule für jüdische Kinder“ in Freiburg (1936-1940)

Unter der nationalsozialistischen Herrschaft wurde ab 1933 die „Rassenlehre“ zum zentralen Thema im Schulunterricht. Jüdische Kinder wurden als minderwertig behandelt und per Erlass des Ministers für Kultus und Unterricht ab 1936 zunehmend aus den Schulen ausgeschlossen. Bereits früher wurde jüdisches Lehrpersonal entlassen, manche durften noch jüdische Kinder unterrichten.

In Freiburg befand sich ab Oktober 1936 eine ‚jüdische Schulabteilung‘ für Schüler:innen Südbadens in zwei Klassenzimmern der Lessing-Knabenschule. Nach der Pogromnacht 1938 durften dann diese Mädchen und Jungen nicht mehr mit den „arischen“ Kindern im gleichen Gebäude unterrichtet werden. Nach Ostern 1939 bekamen die über 60 Kinder Räume im jüdischen Gemeindehaus neben der abgebrannten Synagoge. Bis zu ihrer Deportation nach Gurs am 22. Oktober 1940 fand dort Unterricht statt. Vier Kinder und zwei Lehrerinnen der Zwangsschule wurden ermordet. Die durch mutige Menschen geretteten Kinder verloren aber ihre Nächsten.

Konfrontation mit einer vergessenen Geschichte

Seit 2001 wird die Stadt Freiburg mit dieser vergessenen Geschichte konfrontiert. Überlebende aus sechs Ländern kamen zurück und erzählten ihre Geschichte. Schüler:innen der Lessing-Realschule Freiburg und anderer Schulen hatten seither die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit Zeitzeugen-Berichten ehemaliger jüdischer Schüler:innen aus dem südbadischen Raum.

Wie haben die Jugendlichen reagiert und profitiert? Hier ein kurzer Einblick:

Jahr für Jahr gab es Jugendliche, die sich freiwillig in der Geschichtswerkstatt der Lessing-Realschule engagierten. Sie setzten und setzen sich mit den Familiengeschichten der damals gleichaltrigen jüdischen Kinder auseinander, sie schrieben und schreiben Briefe und beteiligen sich an Dokumentationen, Ausstellungen, Videos, Theaterstücken.

Oft bewegt diese Erinnerungsarbeit auch die Eltern und Großeltern der heutigen Schüler:innen. Sie müssen Fragen beantworten. Details eigener Familiengeschichten werden berührt und an die Oberfläche gespült. Man erinnert sich und spricht über eigene Erfahrungen in der Hitlerjugend oder dem Bund Deutscher Mädchen, über die Zwangsarbeiter:in im eigenen Betrieb, auch über den SS-Opa, der Wachmann im KZ war, oder über die Uroma, die in Bollschweil jüdische Kinder versteckte. Vor kurzem wurde die Geschichte der Jenischen recherchiert, deren Zentralratsvorsitzender Alexander Flügler in Singen heute um Anerkennung als Minderheit kämpft. Eine Schülerin aus der Geschichtswerkstatt hatte nach langem Zögern offenbart, dass ihre jenische Urgroßmutter eine KZ-Erfahrung machen musste. Drei Radiosendungen und ein Podcast über Interviews und Mitschnitte beim Besuch des Europäischen Festes der Jenischen im Juli 2022 im Freilandmuseum Wackershofen wurden zu wertvollen Quellen für Studierende und ihrer Dozentin an der evangelischen Hochschule in Darmstadt.

Kinder aus Einwanderungsfamilien hatten ihren ganz eigenen Zugang zu den Erzählungen der Überlebenden. In russisch-deutschen Kontingent-Flüchtlingsfamilien kam im Interview die gemeinsame Erfahrung mit Jüd:innen während der Verbannung nach Sibirien während des Zweiten Weltkrieges zur Sprache. Eine Oma erzählte: „Wenn das jüdische Ehepaar nicht für alle Kinder provisorischen Unterricht angeboten hätte, dann hätte ich gar keine Schulbildung.“ Eine muslimische Mutter aus Bosnien berichtete aus ihrer Schulzeit von Besuchen eines Konzentrationslagers in Kroatien, in dem insbesondere jüdische Bürger:innen interniert und ums Leben gekommen waren. Ahmed nahm beim Schüleraustausch mit Israel teil. Bei der Abschlussfeier in Freiburg sprach der palästinensische Junge mit deutschem Pass vor 300 Eltern und Schüler:innen: „Nie hätte ich mir vorstellen können, mit israelischen Schüler:innen ein Schlafzimmer oder gar ein Bad zu teilen. Wir kleinen Leute kamen prima miteinander aus. Es sind die Mächtigen, die die Konflikte schüren.“

Flüchtlinge und das Gefühl der Verbundenheit mit Holocaust-Überlebenden

Besonders Kinder aus Flüchtlingsfamilien reagierten im direkten Zeitzeugenvortrag auf beeindruckende Weise: Ihre eigene Flüchtlingsgeschichte war noch greifbar, und so manche hatten den Mut, ihre traumatischen Erlebnisse in der Zeitzeugenveranstaltung anzudeuten. Religiöse Unterschiede waren nicht wichtig, sondern das Gefühl der Verbundenheit mit den Schicksalen der Holocaust-Überlebenden. Es waren Flüchtlingsgeschichten von Jugendlichen, die sich – streckenweise alleine auf sich gestellt – durch Afghanistan, Irak und Iran, durch die Türkei und Griechenland durchschlagen mussten.

Im Zeitzeugenvortrag der Holocaust- Überlebenden erlebten heutige Flüchtlingskinder, wie ehemals gleichaltrige jüdische Kinder heute in hohem Alter über ihre traumatischen Erlebnisse wie zunehmende Diskriminierung und Rassismus im Alltag, Verfolgung und Flucht sprachen – ja sogar über den Schmerz des Verlustes von ermordeten Familienmitgliedern und Freunden. So manches Mal trauten heutige Flüchtlingskinder und Jugendliche vor der versammelten Zuhörerschaft sich zu äußern, ein wenig über ihre Fluchterfahrung anzudeuten und somit die eigene Sprachlosigkeit ein kleines Stück zu überwinden.

Erinnerungsarbeit: Voraussetzung für Frieden und Demokratie

Bei steigendem Rechtsextremismus, Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus sind Zeitzeugenvorträge eine authentische Erfahrung und eine Hilfe, eigene Schicksale zu reflektieren und solidarische Gefühle entstehen zu lassen. So wird Erinnerungsarbeit zur Friedensarbeit und Friedenspädagogik. Im zunehmend autokratischen Russland werden Erinnerungsarbeit und Menschenrechtsorganisationen hingegen verboten. Nur so ist die Akzeptanz des völkerrechtswidrigen Überfalls des russischen Militärs auf das Brudervolk der Ukrainer:innen zu erklären. Der Geschichtsprofessor Heiko Haumann trifft es auf den Punkt: „Für eine offene demokratische Gesellschaft ist Erinnerungsarbeit unerlässlich!“

Fast gibt es jetzt schon keine Zeitzeugen mehr. Was dann? Erst kürzlich bekam die Lessing-Realschule außergewöhnlichen Besuch: Projektvertreterinnen der Deutschen Bibliothek aus Frankfurt kamen in drei Klassen und testeten ein Hologramm von Kurt Maier, dem ehemaligen jüdischen Schüler der Zwangsschule, der heute 92-jährig in Washington D.C. lebt. Es war ein prickelndes Ereignis: Mit Staunen wurden die Antworten auf die regen Schüler:innenfragen wahrgenommen. Die Antworten des Hologramm Kurt Maier wirkten sehr authentisch. Manchmal war die Antwort aber auch zu lang oder ging knapp an der Frage vorbei. Dann ließ die Aufmerksamkeit der Schüler:innen nach. Es war auch ein Unbehagen zu spüren, wenn kein Dialog entstehen konnte. Eine echte Begegnung ist halt doch nicht durch ein Hologramm zu ersetzen!? Aber wer weiß, das Hologramm Kurt Maier steckt ja noch in der Versuchsphase. Im Juli 2023 soll es ausgereift in Frankfurt einer großen Öffentlichkeit präsentiert werden. Auf jeden Fall gilt, dass wir alle, die wir so zahlreich Zeitzeug:innen erleben durften, selbst zu deren Zeitzeug:innen werden sollten!

Autorin: Rosita Dienst-Demuth

Foto: Rosita Dienst-Demuth (rechts) in der Jerusalemer Wohnung von Else Pripis (links), die sie im März 2023 zu ihrem 100. Geburtstag besucht hat.  Foto: Rosita Dienst-Demuth.

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