GIF Sonderreihe zur Erinnerungskultur in Deutschland
Interview mit Jonathan Ben-Shlomo und Karim Saleh
Die Erinnerung an den „Holocaust“ und die Verbrechen des Nationalsozialismus besitzen in Deutschland als dem Land der „Täter“ zu Recht einen überragenden Stellenwert für die demokratische Erziehung zu Pluralismus, Toleranz und Menschenrechten. „Nie wieder Faschismus, nie wieder Antisemitismus, nie wieder Verfolgung von Minderheiten“ – das ist die DNA des Grundgesetzes. Die „Singularität des Holocaust“ und seine zentrale Bedeutung für die nationale Identität der BRD wird jedoch in den letzten Jahren zunehmend aufgebrochen durch zugewanderte Menschen: Sie bringen eigene und damit auch neue und andere historische Perspektiven mit ein. Was also bedeutet Erinnerungskultur heute in einem Einwanderungsland wie Deutschland? In Freiburg entsteht erstmals ein NS-Dokumentationszentrum, das vermutlich Ende 2023 eröffnet wird und die Geschichte der NS-Diktatur im regionalen Kontext aufarbeitet. Im Vorfeld der Eröffnung bietet sich uns die Gelegenheit, das Thema Erinnerungskultur neu zu beleuchten und nach einer Erweiterung des Begriffes zu suchen. Das NS-Dokuzentrum wurde von Anfang an stark unterstützt und vorangebracht von der Grünen Fraktion im Freiburger Gemeinderat.
In einer kleinen Serie beleuchten wir in den kommenden Monaten im GIF verschiedene Aspekte der Erinnerungskultur in Deutschland. Den Auftakt bildet ein Interview mit Karim Saleh, Gemeinderatsmitglied der Grünen Fraktion in Freiburg, sowie Jonathan Ben-Shlomo, grünes Mitglied.
GIF: Karim, du bist in Tübingen in einer deutsch-ägyptischen Akademikerfamilie aufgewachsen. Jonathan, deine jüdischen Großeltern sind in den 1950er Jahren aus dem damaligen Persien nach Israel ausgewandert. Wie verortet ihr euch mit eurem biographischen Hintergrund in Deutschland?
Jonathan: Ich bin Jude, aber nicht religiös. In die Synagoge zu gehen gehört für mich zum Alltag. Vor allem an den hohen jüdischen Feiertagen. Mein Jüdischsein kann ich insbesondere bei Makkabi, dem jüdischen Sportverband in Deutschland, durch mein Ehrenamt als Vizepräsident und meinen sportlichen Alltag ausleben. Jüdischsein ist für mich eher eine Frage der Identität als des Glaubens und das wird für mich bei Makkabi positiv bestärkt. Zum Beispiel mit unseren traditionellen gemeinsamen Schabbes-Abenden. Ein Highlight war auch die im Sommer 2022 veranstaltete Maccabiah in Israel, bei der ich vor genau 25 Jahren erstmals als Jugendlicher teilnehmen durfte und in diesem Jahr die Ehre hatte, die deutsche Delegation als Fahnenträger anzuführen. Wir von Makkabi engagieren uns außerdem ganz bewusst für eine demokratische Zivilgesellschaft. Wir unterstützen das von der Bundesregierung initiierte Förderprogramm „Demokratie leben!“ und bieten hierzu viele Workshops in unserem Bildungs- und Präventionsprojekt „Zusammen1“ an.
Karim: Die Zuschreibung „du bist Muslim“ erfahre ich persönlich eher von der älteren Generation. Diese Zuschreibung nimmt ab, je jünger die Leute sind. Das ist erfreulich. Ich selbst bin muslimisch aufgewachsen, praktiziere aber nur an Feiertagen. Natürlich beschäftigt mich die islamische Religion und vor allem, wie sie in Deutschland leider auch zur Radikalisierung von jungen Menschen eingesetzt wird. Beruflich bin ich seit vielen Jahren als Bildungsreferent in der Präventionsarbeit unterwegs: Ich versuche damit, einer salafistischen Ideologisierung in Schule und Jugendarbeit bzw. einem politischen und religiösen Extremismus entgegenzuwirken. Ich arbeite also gegen Diskriminierung, Antisemitismus und Rassismus. Ziel ist es, die Demokratie zu stärken.
GIF: Welche Erfahrung mit Antisemitismus bzw. Diskriminierung habt ihr gemacht?
Jonathan: Ich bekomme Antisemitismus in allen Bereichen der Gesellschaft und aus allen politischen Spektren mit. Man ist als Jude sehr sensibilisiert dafür. Ich musste mir in Freiburg auch schon den furchtbaren Satz anhören: „Hitler hat euch wohl vergessen.“ Solche Erfahrungen prägen einen und gehen nicht mehr aus dem Kopf. Antisemitismus kommt, so meine Erfahrung, aus der Mitte der Gesellschaft. Grundsätzlich ist Freiburg eine offene, tolerante und grüne Stadt, in der ich als Jude jeden Tag aufs Neue ein starkes Miteinander empfinde und mein Judentum frei ausleben kann. Das merke ich vor allem, wenn ich mit meinem Makkabi Deutschland Outfit mit großem Davidstern auf der Brust unterwegs bin. Was ich aber betonen möchte: Wir haben im vergangenen Jahr 2021 etwas ganz Besonderes gefeiert, nämlich 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland. Als deutscher Jude gehört für mich – so wie für den Großteil der Bevölkerung – das Judentum fest zu unserem Land und unserer Gesellschaft. Dennoch sind antisemitische Vorurteilsstrukturen leider nach wie vor hier verankert – sie waren nie weg. Antisemitismus ist kein Problem der Vergangenheit, sondern im Hier und Heute immer noch virulent in Deutschland. So stimmen z. B. rund 25 Prozent aller Deutschen antisemitisch aufgeladenen Aussagen zu, wie etwa „Juden haben zu viel Einfluss in der Politik“ oder „Juden haben zu viel Macht in der Wirtschaft“.
Karim: Ich sitze auf zwei Stühlen. Ich bin privilegiert aufgewachsen in Deutschland und habe nicht die klassische Diskriminierungserfahrung, die viele junge Muslime hier haben. Aber meine Ausgrenzungserfahrungen sind subtiler. Wenig subtil jedoch war die Wohnungssuche, die für mich und meine Familie mit ägyptischem Namen schwierig war. Erst als ich in der Anzeige meine Funktion als Stadtrat mit angegeben habe, wurden wir zu Wohnungsbesichtigungen eingeladen. Was den virulenten Antisemitismus betrifft, den Jonathan angesprochen hat, hier kann ich ergänzen: Man findet fast überall antisemitische Erzählmuster in meinem beruflichen Kontext. Neuerdings spricht man auch vom „islamisierten Antisemitismus“, also sozusagen den „importierten“ Antisemitismus, der vor allem seit 2015 als rechtspopulistisches Narrativ Eingang gefunden hat. Diesen Begriff finde ich allerdings sehr problematisch. Denn der Islam ist nicht per se antisemitisch! Das ist wichtig zu wissen.
GIF: Welche Bedeutung hat das Holocaust-Gedenken bzw. die Erinnerung an die Shoa in Deutschland für euch?
Karim: Den Holocaust und die NS Zeit habe ich in der Schule vermittelt bekommen. Gleichzeitig habe ich in meiner ägyptischen Familie Vorbehalte gegen Israel und viele Behauptungen, wie etwa, dass keine sechs Millionen Juden umgebracht worden seien, kennengelernt. Ich habe dann stets diese Behauptungen geprüft und war daher immer neugierig auf historische Zusammenhänge. Ich hatte eine Zeitlang Sympathien für Palästinenser*innen. Dann hatte ich eine Phase, in der ich pro Israel eingestellt war. In diesem Spannungsfeld bin ich großgeworden und es hat mich geprägt. Ich glaube wichtig ist Empathie. Ich habe mir bei allen Situationen von Gewalt immer vorgestellt, das wäre ich, ich könnte auch dieses Opfer sein. Egal ob jüdisches oder muslimisches Opfer.
Jonathan: Die deutsche Erinnerungskultur ist für mich ein zweischneidiges Schwert. Ich halte es für absolut bemerkenswert, wie viele Initiativen es gibt und dass das Gedenken an diese Gräuel in allen Bereichen unserer Gesellschaft einen Platz findet. Ich glaube, in keinem Land der Welt nimmt die Erinnerungsarbeit einen so großen Stellenwert ein. Zu Recht. Aber auf der anderen Seite vermisse ich bei all der Erinnerung die Brücke zur Gegenwart. Leider werden viel zu selten jüdische Perspektiven und Stimmen aus dem Hier und Jetzt mit einbezogen.
GIF: Wie meinst du das konkret? Kannst du ein Beispiel nennen?
Jonathan: Seit den 60er Jahren wachsen die beinahe ausgelöschten jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder an und der Sport hat einen riesigen Beitrag dazu geleistet. Dennoch beobachte ich viel zu häufig ein „Reden über die Jüdinnen und Juden“, anstatt dass man mit uns spricht. Damit wird das Bild von den Jüdinnen und Juden als Opfer der Nationalsozialisten verstärkt. Aber die Frage ist doch: Wo bleiben unsere Chancen und Herausforderungen heute? Außerdem wünsche ich mir, dass auch die Täterperspektiven stärker untersucht werden. Rund 18 Prozent der Deutschen glauben, dass ihre Vorfahren den Opfern geholfen hätten, dabei waren es in Wirklichkeit großzügig gerechnet nicht einmal 0,3 Prozent, so ein Forschungsergebnis der Uni Bielefeld aus dem Jahr 2018. Viel zu selten höre ich von meinen nicht-jüdischen Freunden etwas zur Aufarbeitung der eigenen Täter-Familiengeschichte.
Ein weiterer wichtiger Aspekt, der oft übersehen wird: Personen mit Migrationsgeschichte, die in ihrer Familie keinen direkten Bezug zum Holocaust haben, fühlen sich von bestehenden Erinnerungsinitiativen auch nicht angesprochen. Hier zeigt sich ganz deutlich, dass die deutsche Erinnerungskultur auch ihre Lücken hat und nicht inklusiv genug ist. Es muss unbedingt gelingen, zum Beispiel muslimische Migrant*innen durch lokale, persönliche Bezüge für die Problematik abzuholen.
Karim: Ja, das ist richtig. Als Muslim in Deutschland bin ich ohne die deutsche Tätergeschichte aufgewachsen. Ich stelle fest, es ist nicht damit getan, ins KZ zu fahren und die Gaskammern zu besichtigen. Das reicht nicht für eine Erinnerungskultur. Man sollte das Verbindende, die Gemeinsamkeiten erkennen – das, was uns alle verbindet als Menschen, das sollte man fördern. Das Gemeinsame zwischen jüdischen und nichtjüdischen Mitbürger*innen hervorheben, das wäre aus meiner Sicht sinnvoll.
Jonathan: Dem kann ich nur zustimmen. Ich möchte noch eine weitere jüdische Perspektive einstreuen: Wenn wir am israelischen Nationalfeiertag Yom Ha’Shoah an die Opfer des Holocaust erinnern, dann gedenken wir nicht nur der Toten, sondern auch ihrer Nachfahren; Ihren Kindern und Enkelkindern, die nie geboren wurden und die uns heute fehlen. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Wir alle kennen Julius Hirsch, den begnadeten Stürmer des Karlsruher FV, der von den Nazis in Auschwitz ermordet wurde. Viele kennen vielleicht sogar Gottfried Fuchs, seinen kongenialen Sturmpartner, der rechtzeitig emigrieren konnte. Hirsch und Fuchs waren die einzigen beiden jüdischen Fußball-Nationalspieler, die wir jemals hatten. Doch wie viele hätten es bis heute sein können? Durch die Shoah fehlt uns heute ein großer Teil unserer Gemeinschaft.
GIF: Der Publizist Max Czollek beschreibt die deutsche Erinnerungskultur als „Gedächtnistheater“, als „inszenierte Erinnerung“ und „Integrationstheater“. Jonathan, wie stehst du zu dieser kritischen Sichtweise?
Jonathan: Ich denke durchaus auch, dass Minderheiten in Deutschland von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft eine gewisse Rolle zugeschrieben bekommen.
Wenn wir uns anschauen, welches Bild vom Judentum Personen haben, die noch nie Jüdinnen und Juden getroffen haben, dann müssen wir dringend Kritik an unseren Schulbüchern üben. Darin bekommen die Schüler*innen in Deutschland immer das Bild von orthodoxen Jüdinnen und Juden als Opfer von Nazi-Deutschland vermittelt. Die Vielfalt des jüdischen Lebens in Deutschland wird leider nicht vermittelt. Der Opferdiskurs ist festzementiert. Das Judentum ist aber viel vielschichtiger und diverser, als es den meisten Menschen bewusst ist. Es ist wichtig, den jüdischen Klischees entgegenzutreten.
GIF: Bedeutet die deutsche Erinnerungskultur im Gedenken an die Shoa auch ein Unsichtbarmachen anderer Genozide? Von Seiten einiger Kolonialhistoriker*innen kommt dieser Vorwurf. Sie stellen die Singularität des Holocaust in Frage.
Karim: Ich finde diesen Vorwurf nicht gerechtfertigt. Der Holocaust bedeutete die systematische Vernichtung vom Säugling bis zum Greis. „Der Jude“ wurde als staatszersetzend dargestellt, dieses ultimative Bedrohungsszenario war und ist einmalig! Der Holocaust ist und bleibt ein singuläres Ereignis. Der Staat muss daher den Fokus auf die Shoa haben und diese Erinnerungskultur wachhalten als ewige Mahnung, dass so etwas Barbarisches nie mehr passieren darf. Aber gleichzeitig sollte aus meiner Sicht in Bildung und Schulen der Raum geöffnet werden für andere Perspektiven, für andere verfolgte Minderheiten. Kurd*innen, Bosniak*innen, Uigur*innen etc. An diese Opfer denkt niemand. Man sollte in Deutschland dafür sensibler sein und auch über diese Themen mehr sprechen.
Jonathan: Da sind wir uns völlig einig. Die Singularität des Holocaust ist für mich unbestritten. Ich finde es daher auch wichtig, dass Schulklassen ehemalige Konzentrationslager besuchen und die Berge von Schuhen und von Brillen sehen. Aber das reicht nicht. Wichtig ist der Bezug zur Gegenwart. Jüdischsein ist viel mehr als die Erinnerung an den Holocaust. Das Gedenken sollte man ändern. Beispielhaft steht für mich hier der Makkabi-Sportverband, der durch den Sport eine wichtige Integrationsarbeit leistet. Judentum wird heute lediglich mit der Shoa und dem Nahost-Konflikt in Verbindung gebracht. Daran denken die meisten Menschen. Leider. Wir sollten mehr das vielfältige jüdische Leben in Deutschland in den Vordergrund rücken.
Karim: Es ist eminent wichtig, an die Shoa zu erinnern. Man muss immer wieder aufzeigen, wohin diese Logik des Rassenwahns führt, nämlich in die Vernichtung, in den Genozid. Die wichtige Frage, die sich uns aber stellt, ist: Was hat das mit mir heute zu tun? Die moderne Pädagogik muss darauf für die Jugendlichen eine Antwort finden.
Jonathan: Wer Antisemitismus zulässt, lässt auch Rassismus zu und jede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Das kann man nicht oft genug betonen. Antisemitismus ist der Lackmustest für die Krisenfestigkeit eines Staates. Die Geschichte der Menschheit ist geprägt von unzähligen grausamen Verbrechen, Massenmorden und Genoziden, doch wir sollten nicht den Fehler machen, diese gegeneinander aufzuwiegen. Der systematische Massenmord der Nationalsozialisten an sechs Millionen europäischen Jüdinnen und Juden sowie an etwa 250.000 Sinti und Roma, ca. 250.000 Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung und mehreren tausend homosexuellen Menschen ist ein nie dagewesener Zivilisationsbruch.
GIF: Karim, du arbeitest vorwiegend mit jungen Muslimen in Deutschland. Wie begegnet dir dabei das Phänomen Antisemitismus?
Karim: Es gibt in der muslimischen Welt die Vorstellung, dass die Rolle des „ewigen Juden“ heute „der neue Moslem“ ist. Diese Verschiebung bzw. Aneignung der Opferrolle finde ich sehr problematisch, weil es den Holocaust verharmlost. Es ist Teil meines Jobs, dieses Narrativ in Schulen und Bildungseinrichtungen aufzubrechen. Das eigentliche Problem ist: Junge Muslime in Deutschland wachsen zwischen zwei Stühlen auf. Irgendwann kommt die Ansage: Du musst dich entscheiden. Bist du Deutscher? Oder bist du Muslim? Das deutsche Identitätsangebot ist leider schwach. Das muslimische Identitätsangebot ist zunächst sehr verlockend.
GIF: Wie kann man den Antisemitismus bei jungen muslimischen Menschen dämpfen?
Karim: Durch Empathie! Es ist wichtig, das Mitgefühl zu fördern und junge Menschen zu sensibilisieren für Diskriminierung und Ausgrenzung. Und der erste Schritt ist immer die eigene Diskriminierungserfahrung. Wichtig ist, die Menschen erst einmal bei ihrer persönlichen Diskriminierungserfahrung abzuholen und ihre Erlebnisse wahrzunehmen und anzuerkennen. Das Anerkennen des eigenen Leids ist die Basis für die Empathie zum anderen.
Jonathan: Deinen Ansatz finde ich richtig und wichtig. Alle Personen, die von Diskriminierung betroffen sind und in der Gesellschaft marginalisiert werden, müssen gehört werden. Denn nur so können wir miteinander, statt übereinander reden. Allerdings darf man dabei nicht zulassen, dass das komplexe Phänomen Antisemitismus mit all seinen Erscheinungsformen bagatellisiert wird und unterschiedliche Diskriminierungsformen mit der jüdischen Verfolgung gleichgesetzt werden. Das wäre eine Verharmlosung dessen, was zwischen 1933 und 1945 in Deutschland und in Europa passiert ist.
GIF: Was erhofft ihr euch vom NS Dokuzentrum Freiburg?
Karim: Platt gesagt geht es jetzt darum, Erinnerungskultur in die Moderne zu transportieren. Das ist extrem wichtig. Denn wir haben bald keine Zeitzeug*innen mehr. Außerdem leben wir in einer zunehmend heterogenen Gesellschaft, die vielfach keinen Bezug mehr zum NS hat. NS – was hat das mit mir zu tun? Diese Frage muss man übersetzen in ein aktives Engagement für einen demokratischen Staat. Und das bedeutet gegen jede Form von Ausgrenzung eine Haltung zu entwickeln und zu leben. Nur so kann Demokratie funktionieren auf Dauer. Und ein interessanter Aspekt des Antisemitismus liegt in der Kritik an Moderne und Kapitalismus. Diese Kritik hat auch meist antisemitische Bezüge. Das könnte noch deutlicher herausgearbeitet werden.
Jonathan: Die Aufarbeitung der deutschen Tätergeschichte ist noch nicht zu Ende. Hier gibt es noch viel zu tun. Der jüdische Widerstand fehlt in der deutschen Erinnerungskultur. Hierzu würde ich mir noch mehr Forschung wünschen. Wichtig ist auch das Herstellen von lokalen Bezügen. Das macht Geschichte greifbarer. Wenn es dem neuen NS-Dokuzentrum in Freiburg gelingt, in der kritischen Auseinandersetzung mit dem dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte auch Gegenwartsbezüge für alle Zielgruppen unserer vielfältigen Gesellschaft herzustellen und aufzuzeigen, was das mit uns allen, also beispielsweise auch muslimischen Migrant*innen, zu tun hat, dann leistet es bereits einen unfassbar wichtigen Beitrag für die Forschung, aber vor allem auch für unsere demokratische Gesellschaft. Es sollte aufzeigen, welche Verantwortung wir aus der Geschichte ableiten müssen.
Lieber Jonathan, lieber Karim, herzlichen Dank für das spannende Gespräch mit euch!
Die Fragen stellten Antigone Kiefner und Robert Neisen.
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