Pro und Contra: Ist eine Radikalisierung der Klimaschutzbewegung legitim?

„Wir steuern auf einen Klimakollaps zu, wir haben nur noch drei Jahre Zeit, das zu verhindern und wirksame Maßnahmen zu erlassen“, so eine Aktivistin von „Aufstand Letzte Generation“. Seit Januar 2022 blockieren Aktivist*innen Autobahnen, kämpfen gegen Lebensmittelverschwendung und haben der Bundesregierung ein Ultimatum gestellt. Die Aktionen werden derzeit kontrovers diskutiert. Wie weit darf ziviler Ungehorsam gehen? Sind die Mittel der letzten Generation gerechtfertigt? Auch bei den Grünen wird die Radikalisierung unterschiedlich bewertet. Hier im GIF deshalb ein Pro und Contra.

PRO: Über uns ist nur der Himmel

2019. „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ (u.a.) haben eine weltweite Bewegung ausgelöst/mitgestaltet. Menschen erleben, was es heißt, sich friedlich und gemeinschaftlich für eine große, edle Sache einzusetzen, mit Ungehorsam gegen das System. Deutschland- und weltweit rückt die Problematik der Klimaerhitzung, neben weiteren ökologischen Krisen, ins Bewusstsein, wird in der Gesellschaft immer breiter thematisiert. Echter Wandel scheint im Kommen.

Dann: Corona.

Bei der Bundestagswahl 2021 war Klimaschutz ein dominantes Thema. Endlich. Sowohl in Deutschland als auch in Österreich sind nun die Grünen in der Regierung. Der gesellschaftliche Bewusstseinswandel war nachhaltig, die Klimabewegung hat viel erreicht.

Aber so fühlt es sich nicht an. Es ist nicht genug, das wissen wir alle.

Der „Aufstand der letzten Generation“ ist die logische Konsequenz dieser Bewegungen. Eine Splittergruppe, der sich all jene anschließen, die enttäuscht, wütend sind, sich mehr erhofft hatten, die wissen, dass mehr passieren muss. Ein wildes, verzweifeltes Um-sich-Schlagen. Ein letztes Aufbäumen, wie schon der Name der Gruppierung sagt.

Es stimmt, dass die Aktionen nicht die Richtigen treffen: Nämlich das fossile Kapital, die Konzerne, die mit ihrem Lobbyismus und ihrer alltäglichen Praxis unsere Zukunft klauen, für größere Profite. Das hier ist nicht der strategische Ansatz von „Ende Gelände“ und den Aktivisti*innen im Hambacher Forst.

Es stimmt, dass die Aktionen nicht friedlich sind. Die Blockade von Autobahnen beispielsweise blockiert Menschen massiv in ihrem Alltag, raubt ihnen Freiheit, fügt psychisch Schmerz zu. Unnachgiebig, mitleidlos.

Es stimmt, dass der Zweck nicht die Mittel heiligt. In der Gesellschaft, die wir wollen, ist ein solches Verhalten nicht ok. Und es stimmt wahrscheinlich auch, dass der Klimabewegung, und somit schlussendlich dem Klimaschutz, durch die Aktionen mehr Schaden als Nutzen entsteht.

Dennoch: Wir Grünen dürfen uns davon nicht distanzieren!

Diese Leidenschaft, mit der diese Menschen für unser aller Zukunft kämpfen (und sie haben Recht in der Sache), ist die Quelle unserer Kraft. Unser Idealismus.

Natürlich sind wir rational. Wir haben begriffen, dass wir mit Emotion allein keine kluge Politik machen, nicht kooperieren, die ganze Gesellschaft mitnehmen können. Wir sind sicher die rationalste aller Parteien.

Aber auch dieser Idealismus muss bei uns Platz haben und Raum finden. Wenn die Grünen sich vom „Aufstand der letzten Generation“ distanzieren, wem werden sie sich dann zuwenden? Sie verlieren den Glauben ans System und radikalisieren sich, oder sie bilden eigene Parteien, welche uns dann wichtige Stimmen kosten (siehe „Klimaliste“).

Nein, wir müssen diesen idealistischen Menschen die Hand reichen. Was einst für die CDU galt, muss nun für uns Grüne gelten, jedoch nicht nach rechts, sondern nach oben: Über uns ist nichts. Nur der Himmel.

Autor: Fabian Frick

CONTRA: Es ist gefährlich, den Bogen zu überspannen

Fridays for Future hat gezeigt, wie kreativer Protest den Klimaschutz auf der politischen Agenda ganz nach oben bringen kann und wie viel gesellschaftliche Unterstützung hierfür möglich ist. Dies ist auch nötig; denn Klimaschutz ist eine globale und gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Gerade deshalb ist es aber gefährlich, wenn die „Letzte Generation“ mit ihren Protestaktionen den Bogen zu überspannen droht. Wenn Pflegekräfte und Erzieher*innen im Berufsverkehr steckenbleiben, wenn der enge Zeitplan von Eltern zwischen Kita und Job durcheinanderkommt, der manchmal ohne Auto nicht zu schaffen ist, oder wenn Rettungsdienste wertvolle Minuten verlieren, weil Ausfallstraßen oder Autobahnauffahrten blockiert werden, dann schafft dies keine gesellschaftliche Unterstützung für den Klimaschutz oder die Bekämpfung der Lebensmittelverschwendung. Es bringt Menschen, die dem Anliegen grundsätzlich aufgeschlossen gegenüberstehen, gegen die Akteur*innen auf, die sich dafür einsetzen.

Dass diese Aktionen sich gegen den Berufsverkehr in Freiburg richten, gerade in einer Zeit, in der das regionale Nahverkehrsangebot coronabedingt reduziert ist, was Menschen zusätzlich in Zeitnot bringt und veranlasst, das Auto statt die Bahn zu nehmen, zeugt davon, wie wenig Verständnis die Protestierenden für die Lebenswirklichkeit derer haben, die ihre Aktionen treffen, und wie wenig diese sie interessieren.

Dabei ist der „zivile Ungehorsam“ der „Letzten Generation“ auch nicht vergleichbar mit der Blockade von Castor-Transporten oder der Besetzung von Wäldern. Diese Aktionen ziel(t)en unmittelbar auf das, was mit guten Gründen verhindert werden soll(te): auf die Erzeugung und Lagerung von Atommüll, den Braunkohleabbau oder eine Autobahn. Eine Straßenblockade im Berufsverkehr trifft wahllos Menschen, die zufällig, und gerade aktuell vielleicht unvermeidlich, auf der Straße unterwegs sind; dadurch wird aber kein Gramm CO2 weniger emittiert, keine krumme Gurke, kein fleckiger Apfel und kein Brot vom Vortag gerettet.

Zuletzt noch ein Wort zur angekündigten nächsten Eskalationsstufe der „Letzten Generation“: Die Drohung, kritische Infrastruktur zu stören, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden, ist nicht hinnehmbar. Das führt in ungute Diskussionen, welche und wie viel Gewalt denn noch akzeptabel ist. Darauf sollten wir uns nicht einlassen. Ein Zweck, wie gut er auch sein mag, heiligt nicht alle Mittel. Gerade uns Grünen als Friedenspartei, als Umweltpartei und als Partei der Menschlichkeit muss dies immer klar sein.

Patrick Thalacker

Autor: Patrick Thalacker

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