Nicola Hanefeld hat jüdische Vorfahren, die in NS-Vernichtungslagern getötet wurden. Der gelbe Judenstern, den manche Menschen auf Corona-Demonstrationen tragen, hat sie dazu bewegt, für das GIF Online Magazin von ihrer Familiengeschichte zu berichten.
Mit Entsetzen nehme ich die Bilder von Menschen war, die mit Fake-Judensternen (‘Ungeimpft‘) auf ihren Mänteln gegen die Corona-Maßnahmen demonstrieren. Impfgegner*innen, die die epidemische Lage von nationaler Tragweite mit dem Ermächtigungsgesetz von 1933 vergleichen, machen mich ratlos und wütend.
Solche Vergleiche sind unerträglich. Manche sprechen auch von einer „Gesundheitsdiktatur“ – allen voran die AfD. Diese Menschen wissen offenbar gar nicht, was eine Diktatur eigentlich ist und um was es 1933 ging. Während der NS-Diktatur wurden Millionen von Menschen, Juden, Sinti, Roma, Homosexuelle und Menschen mit Behinderungen verfolgt, misshandelt und getötet.
Warum bin ich persönlich so entsetzt?
Dies hat mit meiner Familiengeschichte und dem Holocaust zu tun.
Meine Vorfahren väterlicherseits waren tschechische Juden aus Mähren. Mein Vater konnte 1938 mit seinen Eltern nach England fliehen. Dies war möglich, weil mein Großvater im tschechischen Troppau (jetzt Opava) die Filiale der Firma Gütermann Nähseide leitete und durch seine Geschäftsbeziehungen die Möglichkeit hatte, mit seiner Familie ins Ausland zu fliehen. Die Firma Gütermann stammt aus Waldkirch und wurde dort im 19 Jahrhundert gegründet. In der Freiburger Region ist der Name bekannt.
Seit über 15 Jahren erforsche ich das Schicksal meiner väterlichen Linie und bin seither mit dem Holocaust und der Vernichtungsmaschinerie der Nazis konfrontiert: Zwei Schwestern meines Großvaters und seine Schwiegermutter hatten keine Möglichkeit zu fliehen. Eine Schwester, meine Großtante Grete Lanzer, wurde in Auschwitz ermordet.Transportdatum von Theresienstadt nach Auschwitz: 18. Dezember 1943. Eine andere Schwester meines Großvaters, meine Großtante Else Federmann, kam in das Ghetto von Lodz und starb dort. Transportdatum: 21. Oktober 1941. Meine Urgroßmutter Therese Wilhelm wurde im hohen Alter nach vier Monaten Aufenthalt im Konzentrationslager Theresienstadt schließlich ins Vernichtungslager Treblinka gebracht und dort vergast. Transportdatum: 22. Oktober 1942.
Die Respektlosigkeit und Geschichtsblindheit, mit der sogenannte Querdenker und manche Impfgegner sich selbst mit den Ermordeten im Dritten Reich vergleichen, machen mich fassungslos. Werden sie aber auf ihr unsolidarisches Handeln hingewiesen, organisieren sie einen empörten selbstgerechten Shitstorm. Dies musste z. B. der Inhaber eines Schuhgeschäftes in Emmendingen erfahren. Impfgegner*innen hatten gezielt negative Google-Bewertungen abgegeben und ihn telefonisch beschimpft. Die BZ berichtete dazu am 29.11.2021. Ich kaufe ab jetzt Schuhe nur noch dort.
Corona-Leugner und Impfgegner, die Fake-Judensterne mit der Aufschrift Ungeimpft tragen, kamen bislang straflos davon. Die bayerische Justiz wechselt nun endlich zu einer härteren Gangart. Das Landgericht Augsburg und auch das Bayerische Oberste Landesgericht haben in einem Verfahren festgehalten, dass ein Judenstern sinnbildlich für den gesamten Holocaust steht. Die Süddeutsche berichtete darüber. Der Missbrauch des Judensterns ist jetzt in oben genanntem Kontext als Holocaust-Verharmlosung anzusehen und kann bestraft werden. Hier ist endlich eine Grenze zur „freien Meinungsäußerung“ gezogen. Ich hoffe, sie nehmen jetzt Geschichtsunterricht und bilden sich weiter.
22 Leute aus meinem Bekanntenkreis wollen sich nicht impfen lassen. Die meisten haben, so weit ich es verstanden habe, schlicht mehr Angst vor Biontec oder Moderna als vor COVID. Bei mir ist es umgekehrt: Ich habe mehr Angst vor COVID und Long Covid als vor der Impfung und bin geimpft. Meine oben genannten Bekannten und Freunde haben nichts zu tun mit denjenigen, die die Corona-Maßnahmen mit der NS-Judenverfolgung gleichsetzen. Dennoch machen auch sie mich fassungslos.
Ich bin 1999 in die Partei Bündnis 90 / Die Grünen eingetreten, weil mir nicht nur der Umweltschutz sondern auch die kritische Geschichtsaufarbeitung und der Schutz von Minderheiten sowie eine plurale weltoffene Gesellschaft wichtig sind. Das Gedenken an den Holocaust und die deutsche Erinnerungskultur – ein Begriff, den es in Großbritannien nicht gibt, weil schlicht dieses kritische Aufarbeiten der eigenen gewalttätigen kolonialen Geschichte nie öffentlich in der Gesellschaft vorgelebt wurde – brauchen vielleicht eine Auffrischung. Ist unsere Gesellschaft noch ausreichend geimpft gegen NS- und Holocaust-Verharmlosung?
Nicola ist Engländerin, langjähriges grünes Mitglied im KV Freiburg und Lehrerin für Alexander-Technik. Vor kurzem hat sie ihren PhD in England abgeschlossen zum Thema Alexander-Technik und die Zeit nach der Geburt.
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