„Das Gedenken bildet das Fundament unserer Grundwerte“

GIF Sonderreihe zur Erinnerungskultur in Deutschland.


Nadyne Saint-Cast interviewt Muhterem Aras.

Nadyne: Die Zeit des Nationalsozialismus ist das dunkelste Kapitel in unserer deutschen Geschichte. Du bist mit zwölf Jahren mit Deiner Familie nach Deutschland (Filderstadt) gekommen. Wie hast Du die Erinnerungskultur damals hier erlebt? Spielte die NS-Geschichte aus Deiner Sicht eine große Rolle an der Schule, im Unterricht oder im Alltag der Menschen? Kannst Du Dich daran erinnern, wie Du mit dem Thema NS-Geschichte hier erstmals konfrontiert wurdest?

Muhterem: Ich bin 1978 in die 5. Klasse einer Hauptschule in Filderstadt eingeschult worden. Das so genannte Dritte Reich war natürlich Thema im Geschichtsunterricht. Es gab auch die obligatorische Fahrt zum Konzentrationslager Dachau. Außerhalb der Schule waren die Themen Verbrechen und Verfolgung aber kaum ein Thema. Erstmals intensiver auseinandergesetzt habe ich mich mit der NS-Geschichte, als Rechtsextreme Anfang der 1990er-Jahre Anschläge auf Wohnhäuser von Migranten und Asylunterkünfte verübt haben. Im Fernsehen war zu sehen wie die Angreifer in Rostock-Lichtenhagen unverhohlen den Hitlergruß zeigten. Da habe ich verstanden, dass die Geschichte auch etwas mit mir zu tun hat.

Nadyne: Welche Bedeutung hat aus Deiner Sicht die Erinnerung für unser aktuelles und zukünftiges Zusammenleben?

Muhterem: Ich habe mich 1993 entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und mich politisch zu engagieren, weil ich die Werte unseres Grundgesetzes – die unantastbare Würde JEDES Menschen, Gleichberechtigung, Schutz vor Diskriminierung, etc. – gegen rechtsextreme Attacken verteidigen wollte. Unsere Verfassung und ihre Normen sind in vielerlei Hinsicht ein in Paragrafen gegossenes „Nie wieder“. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben es 1948/49 unter dem Eindruck der Menschheitsverbrechen des NS-Regimes formuliert. Gedenken bildet damit das Fundament unserer Grundwerte heute und in Zukunft. Aus meiner Sicht ist dabei auch die Reflektion wichtig, dass der „Holocaust“ nicht erst mit den KZs begann. Die NS-Verbrechen hatten eine Vorgeschichte der Ausgrenzung, der Hetze und der Gewalt – und auch der Verächtlichmachung von Demokratie in der Weimarer Republik. Das mahnt uns heute zum Einsatz für eine offene, vielfältige Gesellschaft.

Nadyne: Was macht das Land, um die Gedenk- und Erinnerungskultur zu stärken und vor allem für junge Menschen ansprechend zu machen?

Muhterem: Die über 70 Gedenkstätten in Baden-Württemberg sind bei der Landeszentrale für politische Bildung angesiedelt. Der Landtag hat mit großen, fraktionsübergreifenden Mehrheiten in den vergangenen zwölf Jahren die Mittel mehr als verzehnfacht auf über zwei Millionen Euro pro Jahr. Unsere Gedenkstätten haben heute deutlich bessere Möglichkeiten, um etwa Ausstellungen zu modernisieren, digitale Angebote zu schaffen oder Workshops für Schulklassen zu organisieren. Ich gehe regelmäßig auf Gedenkstättenreise, um den Haupt- und Ehrenamtlichen vor Ort zu danken, aber auch um zu hören, wo sie zusätzlichen Bedarf sehen, sei es um die Gedenkstätten stärker zu vernetzen oder neue Angebote gerade für junge Menschen ins Leben zu rufen.

Nadyne: Dass wir immer weniger Zeitzeugen aus der NS-Zeit haben ist eine Herausforderung für die Erinnerungskultur. Was könnten Deiner Meinung nach Formate sein, damit wir die Erinnerung auch für kommende Generationen lebendig halten? Wie können Erinnerungsarbeit und Demokratiebildung aus Deiner Sicht dabei sinnvoll verbunden werden und wie hängen diese beiden Themen für Dich zusammen?

Muhterem: Der Tod von Zeitzeugen ist ein riesiger Verlust für die Erinnerungsarbeit. Es ist eine große Herausforderung, Gedenken so zu gestalten, dass sie ähnlich zu Herzen geht wie die direkte Begegnung mit Überlebenden. Es gibt aber Ansätze, um die Aussagen von Zeitzeugen so zu digitalisieren, dass sogar eine virtuelle Interaktion mit ihnen möglich ist. Zum Beispiel: Jemand stellt eine Frage und eine künstliche Intelligenz kreiert aus einem umfangreichen Interviewmaterial eine passende Antwort.

Ich bin aber überzeugt, gerade in der Schule müssen wir noch weiter umdenken als nur von analog zu digital. In den Schulen sitzen heute viele Kinder, deren Eltern und Großeltern nicht in Deutschland geboren sind.  Das erfordert eine andere Ansprache, um über dunkle Kapitel deutscher Geschichte zu reden. Lehrer:innen sind auch aus diesem Grund mehr denn je aufgerufen, Geschichte ins Jetzt zu holen. Die Ideologie des Nationalsozialismus war antisemitisch im Besonderen und rassistisch im Allgemeinen. Das heißt, wenn die Urgroßeltern dieser Schüler*innen damals in Deutschland gelebt hätten, wären sie dieser Ideologie sehr wahrscheinlich zum Opfer gefallen. Ich glaube, dass man über diesen Hebel, über diese Verbindung, Gedenkkultur in alle Teile der Gesellschaft tragen kann. Dazu brauchen Lehrer:innen Schulung und Unterstützung. Die Landeszentrale für politische Bildung macht dazu bereits viele Angebote, die wir ausbauen sollten.

Nadyne: Welche Gefahren und Herausforderungen siehst Du für unser heutiges demokratisches System?

Muhterem: Die „Mitte“-Studie der Universität Leipzig misst in regelmäßigen Abständen demokratiefeindliche Einstellung in der Bevölkerung. In der aktuellen Befragung von 2022 stimmen immerhin sieben Prozent der Befragten folgender Aussage voll oder überwiegend zu: „Wir sollten einen Führer haben, der Deutschland zum Wohle aller mit starker Hand regiert.“ Die Zustimmung verdoppelt sich, wenn man nach einem Ein-Parteien-System fragt, in dem eine Staatspartei die „Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“.

Umso wichtiger ist eine aufs Hier und Jetzt bezogene Erinnerungsarbeit, die die Grundwerte unserer Gesellschaft aus der Vergangenheit herleitet und in Gegenwart und Zukunft offensiv verteidigt, auch mit Mitteln des Rechtsstaats. Dass die größte – und eine nicht zu unterschätzende – Gefahr für unsere Demokratie von Rechtsextremisten ausgeht, sieht man aktuell an den Putschplänen aus dem „Reichsbürger“-Milieu. Deshalb ist es auch so wichtig, alle Versuche, die NS-Zeit als „Vogelschiss der Geschichte“ zu relativieren, in der öffentlichen Debatte entschieden zurückzuweisen.

Bild: Nadyne Saint-Cast (links) und Muhterem Aras (rechts) sprechen im Landtag von Baden-Württemberg über Erinnerungskultur

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