„Wie hätten wir Grüne uns verhalten …
… wenn die Corona-Pandemie vor 30 Jahren stattgefunden hätte?“
In der Rückschau waren die „Corona-Demos“ und damit verbundene Verschwörungstheorien, zumindest mit einer gewissen Massenwirksamkeit, nur ein flüchtiges Phänomen. Trotzdem lohnt es sich, einen Blick darauf zu werfen.
Was hat das mit uns Grünen zu tun? Dazu ein kleines Gedankenexperiment. Nehmen wir an, die Corona-Pandemie wäre nicht jetzt, im Jahr 2020, ausgebrochen, sondern 30 Jahre früher, 1990. Eine schwarz-gelbe Bundesregierung, Helmut Kohl ist Bundeskanzler, im knallschwarzen Baden-Württemberg ist Lothar Späth Ministerpräsident. Bundes- und Landesregierung ergreifen harte Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung: Ausgangssperren, Quarantäne, teilweise unter Polizeischutz durchgesetzt, die Schließung von Schulen und Gastronomiebetrieben – das bekannte Programm.
Die Preisfrage ist jetzt: wie hätten wir Grüne uns verhalten? (Zur Erinnerung: Anfang 1990 – noch – im Bundestag mit 44 Abgeordneten, im Landtag sitzen zehn Abgeordneten, Freiburgs Oberbürgermeister ist der Sozialdemokrat Rolf Böhme).
Rückblick: das grüne Bundestagswahlprogramm 1987 und viel Widerstand
Ein paar Hinweise gibt das Bundestagswahlprogramm 1987. Der „Widerstand gegen IuK-Techniken“ wird unterstützt – ISDN, Glasfaser und Kabelfernsehen werden vehement abgelehnt, Bildschirmtext soll boykottiert werden, all das, um „Zwänge[n] zur Computernutzung und technisierter Kommunikation in Arbeit und Privatleben“ entgegenzuwirken. Datenschutz wird großgeschrieben, der „gläserne Bürger“ befürchtet und vermutet, dass der Staat Informatiktechnologie nutzen möchte zur „Kontrolle, Einschüchterung und Gleichschaltung“. Das Gesundheitssystem sei „einseitig nur auf organische Krankheiten und Symptome orientiert, aber Krebs, anderen chronischen sowie psychischen Krankheiten hilflos gegenüber“. Grund- und Menschenrechte sollen im Gesundheits- und Sozialwesen eingelöst werden, die „Macht der […] Pharma- und Großgeräteindustrie muß gebrochen werden.“ Und auch das „Behandlungsmonopol niedergelassene[r] Ärzte“ soll aufgehoben werden – zu Gunsten des gleichberechtigten Angebots „verschiedener Heilmethoden“. (Alle Zitate aus dem Bundestagswahlprogramm 1987).
Alte und neue Debatten zur Pharmaindustrie und Verschwörungen
2020 ist die Mischung derjenigen, die gegen die aufgrund der Corona-Pandemie notwendigen Schutzmaßnahmen auf die Straße gegangen sind, durchaus bunt. Auf der einen Seite stehen Rechte, die hier eine Möglichkeit sehen, populistisch ein Thema zu entern. Nachdem zu Anfang der Pandemie die Äußerungen etwa der AfD noch schwankten zwischen Verharmlosung und der Forderung noch schärferer, noch schnellerer Maßnahmen, herrscht dort inzwischen die Haltung vor, dass die Schutzmaßnahmen unnötig waren (da sie ja schließlich gewirkt haben, Stichwort Präventionsparadox). Aber es wäre falsch, diese Demos rein als Rechtsaußenaktivität abzuhaken.
So hat sich Sebastian Müller hier genauer angeschaut, wer in Freiburg auf dem Platz der Alten Synagoge demonstriert hat. Seine kleine Umfrage ist sicherlich nicht repräsentativ. Er stellt dort fest, dass die Demonstrierenden kein Vertrauen in traditionelle Medien haben, sich über eine Alternativöffentlichkeit aus Youtube, Messengern und sozialen Medien informieren. Sie schätzen sich selbst eher als „mitte links“ ein und tendieren zu Grünen, Linken oder zur Tierschutzpartei. 5G wird genauso abgelehnt wie das Impfen, dafür gibt es positive Äußerungen zur Homöopathie. Eingepackt ist das alles in „Angst um Grundrechte und Meinungsfreiheit“.
Hätte 1990 der grüne Kreisverband dazu aufgerufen, an diesen Demonstrationen teilzunehmen? Wären grüne Mitglieder zu diesen Protesten gegen Quarantäne-Maßnahmen des damaligen Innenminister Schäuble gegangen, um aus der taz ausgeschnittene „Wir lassen uns nicht verdaten“-Schilder hochzuhalten, oder im Interview mit Bewegungsmedien wie Radio Dreyeckland darüber zu sinnieren, welches Interesse die „Pharmakonzerne“, der „Medizinkomplex“ und der zutiefst misstrauisch beäugte Staat daran haben könnten, eine „harmlose Grippe“ zur „Pandemie hochzujazzen“?
Ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Grüne in der 1990er-Version – auch in Freiburg – sich auf dieser Seite der Corona-Debatte wiedergefunden hätten.
Und ich bin froh, dass wir als Partei in den letzten Jahrzehnten uns programmatisch weiterentwickelt haben. Dass es jetzt grüne Sozialministerinnen und Sozialminister in den Ländern sind, die beherzt und besonnen die Krise managen, dass der grüne Ministerpräsident sich nicht auf sein Bauchgefühl verlässt, sondern den Rat der Wissenschaft hinzuzieht. Ein Beispiel dafür ist die „Kinderstudie“, an der ja auch die Uniklinik Freiburg beteiligt war. Erst auf dieser Grundlage wurde die jetzt anstehende Öffnung der Kindergärten und Grundschulen beschlossen – und das ist gut so.
Für eine Politik, die wissenschaftlichen Rat einholt
Es geht dabei, um hier nicht falsch verstanden zu werden, nicht darum, Politik durch Wissenschaft zu ersetzen. Als Sozialwissenschaftler weiß ich sehr genau, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse nicht im luftleeren Raum entstehen, sondern immer auch soziale Konstrukte sind. Trotzdem ist eine evidenzbasierte Politik, eine Politik, die wissenschaftlichen Rat einholt, immer besser als Politik, die Fakten nur selektiv wahrnimmt.
Deswegen halte ich es für richtig, wenn wir uns nicht nur in der Klimapolitik – mit scientists for future– sondern ganz generell als eine Partei verstehen, die einen klaren programmatischen Kompass mit einer Offenheit dafür verbindet, diese Programmatik immer wieder an dem sich weiterentwickelnden Stand der Wissenschaft zu messen.
Die Corona-Pandemie zeigt exemplarisch, wie wichtig wissenschaftlicher Rat ist, sie zeigt aber auch, dass die Entscheidungshoheit letztlich bei der Politik liegt und liegen muss. Das gilt gerade in einem Feld, das in der Forschung selbst noch mit einem hohen Maß an Ungewissheit behaftet ist, in dem sich der Erkenntnisstand von Tag zu Tag weiterentwickelt. Durch die Pandemie etwas in den Hintergrund gerückt ist unser Grundsatzprogrammprozess. Für mich ist es eine Lehre aus der Corona-Krise, dass wir in unserem Grundsatzprogramm ein klares Bekenntnis zur Wissenschaft verankern müssen – und dass wir diese Haltung auch konsistent durchhalten sollten.
Till Westermayerist Parlamentarischer Berater für Grundsatz und Strategie der Landtagsfraktion und war bis 2019 Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Wissenschaft, Hochschule, Technologiepolitik. Er wohnt im Rieselfeld und bloggt unter blog.till-westermayer.de.
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