Sprechblase gelb

Sag’s den Grünen! Wir brauchen eine Sozialpolitik der Befähigung

Unser Sozialstaat sollte präventiv und befähigend agieren, um Not zu vermeiden

Liebe Grüne,

aus sozialpolitischer Sicht ist der Koalitionsvertrag der Ampel ambitioniert; die Reform der Grundsicherung für Arbeitsuchende („Bürgergeld“) und die Einführung einer einkommensabhängigen Kindergrundsicherung sind höchst anspruchsvolle Vorhaben. Sehr deutlich wird der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg benannt.

Wer ermutigt wird, traut sich mehr zu

Mit den Ländern will die Ampelkoalition Schulen mit einem hohen Anteil von Kindern aus sozial benachteiligten Familien mit einem Chancenbudget zur freien Verfügung und Stellen für Schulsozialarbeit unterstützen. Das ist ein hoffnungsvoller Ansatz. Denn welche Chancen Menschen offenstehen, darüber entscheidet in Deutschland wie anderenorts auch der Zufall der Geburt. Kinder haben Eltern, die arm oder wohlhabend sind, die sie ermutigen und an ihrer Entwicklung hohen Anteil nehmen, die selbst Bildung erfahren haben und diese hochschätzen, oder Eltern, die ihre Kinder weit weniger unterstützen können. Wer ermutigt wird, traut sich mehr zu und ihm wird mehr zugetraut. So verstärken sich die sozialen Unterschiede, mit denen Kinder ins Leben starten.

Umverteilung allein reicht nicht, um Menschen stark zu machen

Das muss man nicht als gottgegeben hinnehmen. Die Antwort des Sozialstaats ist Umverteilung. Umverteilung mildert soziale Ungleichheit; der Sozialstaat in Deutschland leistet dies in erheblichem Umfang. Mit der Kindergrundsicherung will die Ampelregierung Familien mit niedrigen Einkommen besser unterstützen. So wichtig dies ist, Umverteilung allein reicht nicht, um Menschen stark zu machen, damit sie ihr Leben in die eigenen Hände nehmen können. Wir brauchen ein erweitertes Konzept sozialer Gerechtigkeit: Die Befähigungsgerechtigkeit.

Der Befähigungsansatz stellt die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt

Dieses Prinzip ist abgeleitet aus dem Befähigungsansatz. Menschen brauchen, um ein Leben führen zu können, das sie wertschätzen, nicht allein ökonomische Ressourcen, sondern Fähigkeiten oder, diesen Begriff verwendet der Befähigungsansatz synonym, Verwirklichungschancen. Diese sind Ausdruck der Freiheit, unterschiedliche Lebensziele und Lebensstile realisieren zu können. Der Befähigungsansatz stellt die Potentiale jedes Menschen in den Mittelpunkt; jede und jeder ist zur Entfaltung und Verwirklichung ihrer und seiner Fähigkeiten auf ein förderliches soziales Umfeld angewiesen. Das Bildungssystem, der Sozialstaat und vielfältige andere Politikfelder sind daran zu messen, ob sie darauf ausgerichtet sind, Menschen so zu stärken, dass sie Akteure ihres eigenen Lebens werden können.

Befähigung braucht Bildungsgerechtigkeit

Eine Politik der Befähigung gelingt nicht ohne Bildungsgerechtigkeit; dieser Herausforderung stellt sich der Koalitionsvertrag. Bildung ist in aller Munde, der enge Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg wird allseits beklagt. Jeder fünfte Schüler kann am Ende der Schulpflichtzeit eigentlich nicht richtig lesen und ist auf eine Ausbildung ungenügend vorbereitet.

Abstiegsängste der bürgerlichen Mitte führen zu sozialer Abgrenzung nach unten

Fraglich scheint mir allerdings zu sein, ob die bürgerliche Mitte, die diesen Zustand zweifelsohne als ungerecht empfindet, daran wirklich etwas ändern will. Denn sie pocht – auch aufgrund irrrealer Abstiegsängste – zugleich auf soziale Abgrenzung nach unten. Das ist auch ein Problem für die Grünen, viele ihrer Wähler sind gut gebildet und beruflich erfolgreich, sie wollen, völlig verständlich, ihren sozialen Status an ihre Kinder weitergeben. Die Herausforderung ist, einen Weg zu finden, Bildungsgerechtigkeit zu fördern, ohne den Widerstand der Mitte hervorzurufen.

Herausforderung für die Grünen: Der Sozialstaat bleibt weit hinter seinen Möglichkeiten

Das Wort „Befähigung“ kommt im Koalitionsvertrag der Ampel nicht vor. Aber es gibt eine Andeutung im Koalitionsvertrag, die man im Sinne einer Politik der Befähigung interpretieren kann: „Wir setzen uns für einen Sozialstaat ein, der die Bürgerinnen und Bürger absichert, aber auch dabei unterstützt, neue Chancen im Leben zu ergreifen.“

Ob dies gelingen wird, entscheidet sich nicht nur auf dem Feld der Bildungspolitik. Der an sich gut ausgebaute Sozialstaat in Deutschland bleibt weit hinter seinen Möglichkeiten, Notlagen zu vermeiden. Dies wird auch die Grünen in ihrer neuen bundespolitischen Verantwortung herausfordern müssen. Viele Präventionsprogramme wie etwa Angebote für werdende Eltern und junge Familien erreichen weit leichter die Mittelschicht und nicht diejenigen, die am dringendsten auf sie angewiesen wären.

Der Sozialstaat teilt Zuständigkeiten nach den Instrumenten auf, die er bereithält. Real existierende Menschen haben aber Problemlagen, die quer zu diesen Zuständigkeiten liegen. Ob kommunale Jugendhilfe, Schulbehörde, Jobcenter oder Arbeitsagentur, jeder Akteur handelt in der Logik seiner Zuständigkeiten und im Rahmen der gesetzlichen Restriktionen, die seine Arbeit bestimmen. Gegenüber Menschen aus prekären Milieus verhindert dies die Hilfe (wie) aus einer Hand, was notwendig wäre, um diejenigen besser zu erreichen, die es schwerhaben, sich im verwinkelten Gebäude des deutschen Sozialstaats zurecht zu finden.

Die dringende sozialpolitische Reformaufgabe für die Ampelkoalition: ein präventiver und befähigender Sozialstaat

Ein allzuständiges Bundessozialamt wäre keine gute Alternative zur heutigen Struktur des Sozialstaats. Aber der Abbau der Kooperationsblockaden, die eine präventive und befähigende Ausrichtung des Sozialstaats massiv behindern, ist eine dringende sozialpolitische Reformaufgabe. Es ist zu hoffen, dass die Ampelregierung sie aufgreift. Es würde ihr zugleich helfen, ihr ambitioniertes sozialpolitisches Programm auch umzusetzen.

Foto: Roman Herzog Institut, München.

Georg Cremer

war von 2000 – 2017 Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes. Er lehrt als apl. Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Freiburg.

Sein letztes Buch: Sozial ist was stark macht. Warum Deutschland eine Politik der Befähigung braucht und was sie leistet. Herder Verlag 2021.

www.georg-cremer.de

Kommentar verfassen

Artikel kommentieren


* Pflichtfeld

Mit der Nutzung dieses Formulars erklären Sie sich mit der Speicherung und Verarbeitung Ihrer Daten durch diese Website einverstanden. Weiteres entnehmen Sie bitte der Datenschutzerklärung.

Verwandte Artikel