Ein kleiner Rückblick des AK Bildung
Die 90iger Jahre – als Inklusion noch Integration hieß und selbst dieses Wort im Schulgesetz des Landes untersagt war – und es in Freiburg Betonbrocken in den Schulhof regnete…
Im Juli 1997 gründete sich der Arbeitskreis Bildung der Freiburger Grünen. Auslöser war, dass dem grünen Umwelt-Dezernat mit Bürgermeisterin Gerda Stuchlik ab dem kommenden Jahr der Bildungsbereich zugeordnet werden sollte. Kommunale Bildungspolitik gab es bis dahin in Freiburg nicht. Der Bildungsbereich im SPD-geführten Kulturdezernat war eine Leerstelle, es gab keine inhaltlichen Debatten. Man sah die Verantwortung ausschließlich beim Land.
Neuland: Visionäre kommunale Bildungspolitik
Der AK arbeitete sich in dieses Neuland kommunaler Bildungspolitik visionär ein: Grundlage waren Texte der Bildungskommission NRW und der grünen BAG Bildung. Der AK lud Referent*innen ein und entwickelte ein kommunales Schul- und Bildungskonzept unter dem Motto: „Schule als Lern- und Lebensort“. Die Fragestellungen: Welchen Beitrag kann die Kommune zur Zukunftsentwicklung von Schule leisten? Welche Verantwortung für Bildung und Bildungsgerechtigkeit hat eine Kommune? Dies war der Startschuss für grüne Bildungspolitik in Freiburg.
Die Schule als Ort gelebter Demokratie
Im Januar 1998 stellten die Grünen in ihrer Pressekonferenz „Grüne Perspektiven für eine lokale Schulpolitik“ anhand eines 10-Punkte-Programms vor. Es hat in seinen zentralen Stichpunkten an Aktualität kaum eingebüßt:
- Schule als Ort gelebter Demokratie
- Ökologie als zentrales Thema der Schule der Zukunft
- Förderung von „Integration“
- Globalbudgets für Freiburgs Schulen
- Die Stadt als Lernort
Die Resonanz war groß. Im Februar nahm das Dezernat II in grüner Hand unter Gerda Stuchlik neben Umweltschutz-, Forst- und Gartenamt nun auch das damalige Schul- und Sportamt auf. Im Staatlichen Schulamt des Landes gab es große Aufregung. Die Furcht einer „Einmischung“ der Stadt in Schulfragen war groß. Eine der Autor*innen wurde damals von der Leiterin des Staatlichen Schulamts gewarnt: „Da kommt etwas auf uns zu…“
Von Betonbrocken und leeren Kassen
Der AK informierte sich in vielen Gesprächen mit lokalen Akteur*innen des Bildungssektors, organisierte Veranstaltungen und ließ in Anhörungen Eltern, Schüler*innen und Schulleitungen zu Wort kommen. Unter dem Motto „Wo drückt der Schuh?“ rückte die lang verschleppte Schulsanierung in den Fokus. Pikantes Detail: Die Rektorin des Rotteckgymnasiums brachte einen Betonbrocken mit, der am Vormittag aus der Fassade gefallen war! Diese Anhörung brachte im wahrsten Sinne des Wortes den Stein ins Rollen. Es stellte sich heraus: Die Freiburger Schulen waren zu zwei Dritteln Sanierungsfälle, es hatte sich ein Sanierungsstau von mehreren Hundert Millionen DM gebildet. Während sich die Rathausspitze lieber mit dem Bau des neuen Konzerthauses befasste, pochten die Grünen auf die dringende Sanierung der Schulbauten.
Das Problem: Es gab keine Rücklagen für Sanierungen und keine Gelder für den Bauunterhalt. Der damalige OB Rolf Böhme schob die Generalsanierungen in eine unbestimmte Zukunft und kürzte sogar noch im Jahre 2000 die Summe für Bauunterhaltung. Die Grüne Fraktion organisierte daraufhin eine Mehrheit im Gemeinderat dagegen und machte diese Entscheidung rückgängig.
Die 2000er Jahre – wie aus „böhmeschen Schulen“ sanierte Schulen wurden und durch das Projekt Bildungsregion Freiburg das Zuständigkeitsdenken (Toiletten: Stadt / Talente: Land) – verändert wurde…
2002 wurde Dieter Salomon zum OB gewählt. Eine der ersten Amtshandlungen: Sanierungsmittel in mehrfacher Millionenhöhe in den Haushalt stellen. Stück für Stück wurde endlich saniert, erweitert oder neu gebaut – in zehn Jahren für rd. 300 Mio €. Ein dicker kommunaler Finanzbrocken.
Der dickste Brocken war und ist seither die Staudinger-Gesamtschule. Sie ist nicht sanierungsfähig und wird nun neu gebaut. Gesamtkosten: ca. 130 Mio. €. Schulsanierung wurde ab 2002 zum Investitionsschwerpunkt im Freiburger Haushalt. Parallel dazu wurden 15 Ganztagsschulen und die Schulkind-Betreuung ausgebaut.
Bildungschancen gerechter verteilen
Das grüne Dezernat startete 2006 gemeinsam mit dem Land und der Bertelsmann-Stiftung die „Bildungsregion Freiburg“ als richtungsweisendes Pilotprojekt für Baden-Württemberg. Es wurde inzwischen fast landesweit und teilweise bundesweit als etabliertes Modell übernommen. So erinnert sich einer der Autor*Innen an ein anregendes Gespräch mit Robert Habeck in einem Hafencafé in Kiel. Gerda stellte dort das Projekt vor, Robert war begeistert und wollte es als damaliger grüner Landesvorsitzender sofort übernehmen.
Die Idee: Bildungschancen in einer Kommune gerechter verteilen durch eine Gesamtstrategie für Bildung, Erziehung und Betreuung – ohne Beharren auf Zuständigkeiten. Mit viel Experimentierfreude wurde die Qualität der Bildungsangebote verbessert. Es galt, Kinder und Jugendliche individuell und optimal zu fördern. Gelingende Bildungsbiografien wurden plötzlich ein zentrales Thema der Stadtgesellschaft.
Kein Kind darf verloren gehen
„Kein Kind darf verloren gehen!“ Alle Stationen einer Bildungsbiografie sollen gut aufeinander aufbauen: Frühkindliche Bildung, schulischer Werdegang und Startbedingungen in ein erfolgreiches Berufsleben – in all diesen Entwicklungsphasen stellte das Freiburger Pilotprojekt die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ihrer eigenen Persönlichkeit und ihren Fähigkeiten in den Mittelpunkt. Nach der afrikanischen Leitlinie „es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind zu erziehen“ wurden vor Ort systematisch alle relevanten Unterstützungssysteme und Ressourcen für gute Bildungsbiografien aktiviert.
Aus der Fülle der Maßnahmen seien hier nur einige genannt:
- Umfangreiche Onlinebefragung zur Schulzufriedenheit in Freiburg
- Bildungsberichterstattung
- Qualifizierung „Neue Freiburger Lernkultur“
- Übergangsmanagement
- Innovationsfonds (Freie Träger aus Kultur, Sport etc. unterstützen Schulen)
- SchülerInnencoaching zur beruflichen Orientierung
- Sprachförderprogramme in Kitas u.v.m.
Bildungsregion Freiburg – ein voller Erfolg
Über 70 Schulen und zahlreiche Bildungsakteure engagieren sich seither in der Bildungsregion Freiburg. Viele Tausende Menschen – Lehrende, Schulleitungen, Eltern, Ehrenamtliche, Vertreter*innen von Wirtschaft, Vereinen, Sozialeinrichtungen und Bildungsträgern, Mitarbeitende der Bildungsverwaltung und natürlich die Kinder, Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst – stehen für die „Bildungsregion Freiburg“. Siehe dazu auch einen Überblick nach zehnjähriger erfolgreicher Praxis: https://www.freiburg.de/pb/site/Freiburg/get/params_E-1509670590/1278359/Broschuere_BildungsregionFreiburg_2006_2016.pdf
Ein Meilenstein war die Herausgabe des 1. Freiburger Bildungsberichts im Jahr 2008 als Beginn eines regelmäßigen Bildungs-Monitorings. Die seither erschienenen vier Berichte (zuletzt 2017, geplant wieder 2021) dienten jeweils als Grundlage für umfangreiche Maßnahmen und Ressourcensteuerung durch den Gemeinderat. Somit werden seither Bildungsprozesse in Freiburg nicht „gefühlt“, sondern auf der Grundlage von Daten unterstützt.
Die 2010er Jahre bis heute – als Bildung in Freiburg aus einem Guss „gemanagt“ und strukturiert wurde…
Nach drei Jahren Pilotphase war klar: Die Bildungsregion Freiburg ist eine Erfolgsgeschichte. Sie mauserte sich zusammen mit dem Parallelprojekt LEIF (Lernen erleben in Freiburg) des Bundeswissenschaftsministeriums zum „Freiburger Bildungsmanagement“. Seither begleitet und unterstützt die Stadt systematisch alle Bildungsprozesse von der Kita bis zur Erwachsenenbildung.
2010 übernahm Gerda auch das Amt für Kinder, Jugend und Familie, 2018 kam das neu gebildete Amt für städtische Kindertagesstätten hinzu. In ihrer Amtszeit wurden die Ganztagsschule und die Schulkind-Betreuung eingeführt, die U3- Betreuung erweitert, das Freiburger Bildungsmanagement implementiert und die Schulsozialarbeit ausgebaut, bei der Freiburg landesweit übrigens an der Spitze liegt.
Zum Abschied – ein herzliches Dankeschön an Gerda Stuchlik…
Bildung in Freiburg wurde fast ein Vierteljahrhundert stark durch Gerdas Ziele und Visionen geprägt, die sie beharrlich verfolgte. Sie ließ sich in ihrer Arbeit nicht von bürokratischen Zuständigkeiten im Bildungsbereich, sondern von Notwendigkeiten leiten und konnte so viele Ressourcen aktivieren. Sie engagierte sich mit Herzblut für Bildungsgerechtigkeit, Potenzialentwicklung und systematische Unterstützung aller lebenslangen Bildungsprozesse, von denen letztlich die Zukunft einer Stadt abhängt. Ihr Anspruch war immer: Eine Kommune ist verantwortlich, dass Kinder und Jugendliche nicht verloren gehen. Hier vor Ort wissen die Akteure am besten, wo Veränderungen nötig sind. Es ist besser, als Kommune vorzusorgen und vorausschauend zu handeln, statt auf Land oder Bund zu warten. Alle Beteiligten vor Ort für kreative Lösungen zusammenzuführen – dafür hat sich Gerda als Bürgermeisterin mit großer Leidenschaft eingesetzt.
Autor*innen:
Birgit Woelki (ehemalige Stadträtin, Bildungspolitikerin, Mitgründerin des AK Bildung)
Rolf Wiedenbauer (Schulrat i.R., sechs Jahre lang Leiter des Bildungsbüros der Stadt Freiburg, jetzt freier Berater /Coach immer noch mit Visionen für die Schule der Zukunft)
Antigone Kiefner (GIF-Redaktion)
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