Kind an Tafel

Die vergessenen Kinder

Schüler*innen mit Behinderungen und die Corona-Krise

Die Schulschließungen aufgrund der Corona-Pandemie haben den Alltag von Schüler*innen, Eltern und Lehrer*innen durcheinandergewirbelt. Zwischen der Entwicklung des digitalen Unterrichtskonzepte und den Zwängen der sozialen Distanzierung und des Homeoffice sind Schüler*innen mit Behinderung und deren Familien völlig aus dem Blick gefallen ─ aufgrund der besonderen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen und weil sie von Ministerien, Behörden und Medien während der Krise lange vergessen gar systematisch ignoriert wurden.

Für die Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren (SBBZ) – vielen noch immer besser als Sonderschulen bekannt – kamen zu den allgemeinen Pandemiebedingungen weitere Schwierigkeiten hinzu. Gespräche mit Lehrkräften aus Freiburg und dem Umland zeigen, dass die Pandemie und die Schließung der Schulen viele Schüler*innen mit sonderpädagogischem Betreuungsbedarf und deren Familien vor schwerwiegende Probleme stellt. 

Homeschooling kann den engen Kontakt zu den Lehrkräften nicht ersetzen

Aufgrund ihrer geistigen oder körperlichen Behinderungen haben viele Schüler*innen der SBBZs besondere Bedürfnisse. So brauchen sie als unverzichtbare Voraussetzung für effektives Lernen einen gewohnten und strukturierten Tagesablauf sowie ein enges Vertrauensverhältnis zu den Lehrkräften. Diese Strukturen und Abläufe fielen in den letzten Monaten weg und ließen sich kaum durch Homeschooling ersetzen. Die Sonderpädagog*innen hätten sich zwar, so eine Lehrerin, während des gesamten Lockdowns bemüht, in engem Austausch mit ihren Schüler*innen und deren Eltern zu bleiben. Doch fällt es vielen Kindern mit Behinderung schwer, über Telefonate oder Videoanrufe zu kommunizieren. Dies hatte besonders Auswirkungen auf die Beziehungsarbeit zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen.

Digitales Lehrmaterial meist nicht ausreichend

Auch Arbeitsblätter, wie sie als Notlösungen in vielen anderen Schularten herumgeschickt wurden, sind für die Schüler*innen der SBBZs oft nur wenig geeignet: Die Kinder arbeiten im normalen Schulalltag mit vielseitigeren und konkreteren Materialien, die ein anschauliches und erlebendes Lernen ermöglichen. Diese Materialien lassen sich aber nur schwer per Post verschicken. Hier musste improvisiert werden. Für alle Beteiligten war dies eine unzureichende Notlösung. 

Auch digitale Lernangebote waren nur begrenzt hilfreich. Für einige Schüler*innen waren sie kein geeignetes Lernmedium. Für andere Schüler*innen, für welche die digitalen Lernangebote geeignet gewesen wären, scheiterte das Angebot oftmals an fehlenden Endgeräten oder auch an der digitalen Kompetenz der Eltern. 

Kreide

Kinder mit Behinderungen brauchen mehr Betreuung. Eltern standen plötzlich alleine da.

Doch nicht nur der Unterricht brach für Kinder mit Behinderungen und deren Familien weg. Auch ein großer Teil des sonst so wichtigen sozialen Unterstützungssystems fiel aufgrund des Lockdowns weg. Kinderbetreuung durch Fachkräfte sowie die Freizeitgestaltung durch soziale Träger, wie zum Beispiel der Lebenshilfe, konnten weitestgehend nicht stattfinden. „Stay home – Stay save“ ist mit einem Kind, das beispielsweise einen erhöhten Bewegungsdrang besitzt oder sich nicht alleine beschäftigen kann, leichter gesagt als getan. Der hohe Betreuungsbedarf der Kinder, normalerweise auf verschiedene Betreuungspersonen verteilt, konzentrierte sich somit allein auf die Eltern: Pflege, Betreuung und Begleitung beim Lernen, während gleichzeitig noch die eigene Arbeit im Homeoffice erledigt werden sollte. Viele Eltern brachte dies an das Ende ihrer Kräfte. 

Mehr Abhängigkeit, mehr soziale Ungleichheit, weniger Teilhabe

Vielen Kindern und Jugendlichen mit Behinderung fällt es zudem schwer, sich digital zu vernetzen. Auch hier waren sie während der Pandemie auf ihr Umfeld angewiesen, um mit Freunden in Kontakt bleiben zu können. Genauso war bei Schulaufgaben oder von Lehrer*innen angebotenen Beschäftigungsmöglichkeiten die Initiative und Begleitung der Eltern gefordert.  Deutlich wurde: Bildungschancen und soziale Teilhabe von Schüler*innen mit Behinderung hingen während der Pandemie noch mehr als sonst davon ab, wieviel Zeit ihr Umfeld für sie hatte und wie fit Eltern etwa in Bezug auf digitale Medien sind. Soziale Ungleichheiten, unter denen diese Kinder sowieso besonders leiden, drohen sich durch die Pandemie nochmals zu verstärken. Ihre Partizipationsmöglichkeiten werden weiter eingeschränkt. Auch in dieser Hinsicht sind einkommensschwächere Familien durch das Zusammentreffen verschiedener Faktoren, wie beispielsweise beengtem Wohnraum und fehlenden digitalen Endgeräte, um ein Vielfaches mehr belastet. 

Hygiene- und Abstandsregeln für Schüler*innen mit Behinderung oft nicht umsetzbar

Auch mit dem nach den Pfingstferien wieder aufgenommenen Unterreicht kamen neue Probleme für die SBBZs hinzu. Die vom Kultusministerium vorgegebenen Hygiene- und Schutzmaßnahmen ließen sich im sonderpädagogischen Schulalltag oft nur äußerst eingeschränkt bis gar nicht umsetzen. Viele Schüler*innen können aufgrund ihrer kognitiven oder körperlichen Einschränkungen die Abstandsregelungen wie auch das Tragen eines Mundschutzes schwer nachvollziehen und umsetzen. Viele Schüler*innen benötigen enge, körpernahe Begleitung und Interaktion beim Lernen – auf Abstand ist dies offensichtlich nicht möglich. Darüber hinaus sind im Umgang mit einigen Schüler*innen auch Pflegemaßnahmen nötig, die den allgemeinen Hygieneregeln grundsätzlich widersprechen. Wenn ein Kind etwa eine körpernahe Anleitung einer Lehrkraft benötigt, um sich vorschriftsmäßig die Hände waschen zu können, werden die Grenzen dieser Regelungen schnell klar.

Für Schüler*innen, die aufgrund ihrer Behinderung die Hygiene- und Abstandsregeln gar nicht einhalten können, fehlte es zudem oft an Räumlichkeiten, in denen ein weitestgehend sicherer Unterricht unter Ausnahmebedingungen stattfinden könnte. Sie mussten also oft auf Unterrichtsstunden verzichten oder, getrennt von anderen Schüler*innen, zu anderen Zeiten in die Schule kommen. Auch für Kinder, die selbst zur Risikogruppe gehören, konnte oft kein regelmäßiger Präsenzunterreicht stattfinden. 

Individuelle Lösungen statt gemeinsamer Strategie des Landes

Wie an den SBBZs mit dieser hochkomplexen Situation umgegangen wurde, hing meist von Einzelentscheidungen der Schulleitung und des Kollegiums ab. Denn das Kultusministerium in Baden-Württemberg hatte nach einiger Zeit ohne Angaben letztendlich dazu angehalten, doch individuelle Lösungen zu finden. Von Seiten des Lehrpersonals war durchaus Verständnis dafür vorhanden, sich individuell an die Bedürfnisse der Schüler*innen anpassen zu müssen. Doch kritisierten viele Lehrer*innen scharf das Fehlen klarer Richtlinien von Seiten des Kultusministeriums für die SBBZs. Insbesondere in der Kommunikation stellten die Lehrer*innen dem Ministerium ein schlechtes Zeugnis aus. Oftmals seien in den ersten Informationsschreiben zur Corona-Pandemie die SBBZs vergessen oder deren besondere Voraussetzungen komplett ignoriert worden, so die Aussage. Erst nachdem man sich wiederholt beschwert hatte, kamen etwas genauere Informationen aus Stuttgart. Diese Unsicherheit, so beklagt sich eine Lehrerin, sei für Eltern und Lehrkräfte unbefriedigend gewesen und habe die Ausnahmesituation zusätzlich aufreibend gestaltet. Ähnlich sahen dies Eltern der Esther-Weber-Schule für Körperbehinderte in Emmendingen. Sie wandten sich im Juli in einem offenen Beschwerdebrief an die Kultusministerin, wie die Badische Zeitungdamals berichtete. 

Digitales Lernen muss Schüler*innen mit Behinderung besser einbeziehen

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage: Welche Lehren muss eine „grüne“ Bildungspolitik aus den Problematiken der Corona-Pandemie für Schüler*innen mit Behinderungen ziehen? Bei der aktuellen Diskussion um die Weiterentwicklung des digitalen Lernens sind auch Schüler*innen mit Behinderung und deren Bedürfnisse zu beachten und mitzubedenken. Die Corona-Krise hat die individuellen und spezifischen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung offengelegt. Die SBBZs können intensiv und vielschichtig auf diese eingehen. Allerdings wurden auch die Sorgen vieler Inklusionsbefürworter bestätigt, dass die gesonderte Schulform diese Kinder marginalisiert und so oftmals dem Vergessen aussetzt. 

Schüle*innen mit Behinderungen dürfen nicht marginalisiert werden

Elke Zimmer, zuständige Sprecherin unserer grünen Landtagsfraktion, sieht in den Entwicklungen während der fortdauernden Pandemie keine „Unterordnung der SBBZ gegenüber den allgemeinbildenden Schulen“. Sie hält es aber für notwendig, bildungspolitische Schlussfolgerungen aus den zurückliegenden Monaten zu ziehen. Jenseits der Diskussion um die Schulform ergibt sich eine zentrale Erkenntnis:  Wie andere marginalisierte Gruppen, gehören Kinder mit Behinderung in Ausnahmesituationen leider zu den Ersten, die vergessen werden. Das müsse sich ändern, fordert eine Lehrerin: „Auch unsere Kinder haben ein Recht auf Bildung und das ist nicht weniger Wert, als das Recht eines Abiturienten“. Daran sollten wir „Grüne“ auch in Krisenzeiten immer wieder erinnern! 

Autor: Moritz Sorg

Moritz ist Doktorand der Geschichte und aktiv in der Jugendarbeit. Bei den Grünen interessiert er sich besonders für sozialpolitische Themen, Arbeitspolitik und Bildungsgerechtigkeit. 

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