Katrin LANGENSIEPEN in the EP in Brussels

Ist Europa sozial genug?

MdEP Katrin Langensiepen im Gespräch über EU-Politik und Menschen mit Behinderungen

Katrin Langensiepen ist im Europaparlament die erste weibliche Abgeordnete mit einer sichtbaren Behinderung. Seit der Europawahl im Mai 2019 setzt sie sich als Mitglied von Bündnis 90 / Die Grünen für eine starke EU-Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderung ein. Mit Konstantin Schwarzmüller und Florian Lessing vom AK Europa des KV Freiburg diskutierte sie im vergangenen Sommer. Etwa 25 Teilnehmer*innen verfolgten dieses Webinar.  

Katrin Langensiepen politisiert sich aufgrund ihrer Benachteiligungen wegen Behinderung

Zunächst zu Katrin Langensiepens Vita: Geboren 1979 in Langenhagen bei Hannover, interessiert sie sich nach dem Abitur für Sprachen, Kultur und Journalismus und verbringt als überzeugte Europäerin Praktikas in Holland, Marseille, einem Kibbuz in Israel und in Shanghai. Nach Ihrem Abschluss als Fremdsprachenassistentin bleiben ihr aufgrund ihrer Behinderung viele Chancen verwehrt. Es ist für sie – wie für viele Menschen mit Behinderungen – schwierig in der Finanzkrise einen Arbeitsplatz zu finden. Auch diese Erfahrungen politisieren sie, so dass sie 2010 Mitglied bei B90/ Die Grünen wird und bereits ein Jahr später in die Stadtverordnetenversammlung der Stadt Hannover gewählt wird. Dort wird sie sozialpolitische Sprecherin und später Sprecherin der BAG Behindertenpolitik für Teilhabe und Solidarität.

Von 2017-2019 ist sie als Referentin eines MdL und eines MdB in Hannover tätig und wird im November 2018 auf der BDK in Leipzig auf Platz 9 der Europaliste mit einem starken Votum ihres Landesverbandes Niedersachsen gewählt. Als erste weibliche Abgeordnete mit einer sichtbaren Behinderung zieht sie bei der Europawahl im Mai 2019 für Bündnis 90 / Die Grünen in das Europaparlament ein.

Nicht ohne uns über uns entscheiden!

Kurz vor dem Webinar mit dem KV Freiburg hatte sie an einer Abstimmung über die Disability Strategy der EU teilgenommen. Das Webinar beginnt sie mit dem Hinweis, dass die Bundesrepublik Deutschland genau vor nun zehn Jahren die UN-Behindertenkonvention ratifiziert habe. Und dass sich Deutschland damit zu einem Paradigmenwechsel bekannt habe, nämlich dass „ Nicht ohne uns über uns entschieden werden darf“.

Konstantin und Katrin im Gespräch

Wo steht Deutschland bei der Inklusion?

Katrin beantwortet diese Frage mit Beispielen aus der Praxis: Als Abgeordnete musste sie selbst bereits erleben, dass die Stadt Brüssel ganz schlechte Noten im Hinblick auf Barrierefreiheit erhält. Katrin erzählt von Ihren Erlebnissen in Israel und Marseille und stellt fest: „Wo der bunte Hintergrund selbstverständlich ist, haben Kinder auch weniger Vorurteile“. Und wo wenig Vielfalt sei, da werde ein Mensch mit Behinderung auch eher angestarrt. Katrin plädiert für Empowerment von Menschen mit Behinderungen und einem Wegkommen vom Schutz- und Fürsorgegedanken für Menschen mit Behinderungen. Dieser hatte lange die Nachkriegszeit in Deutschland geprägt.

Handlungsbedarf: Inklusion und Arbeitsmarkt

Dazu meint Katrin: „Seit 2010 steigen die Zahlen von Menschen mit Behinderungen in Werkstätten stetig auf derzeit ca.300.000 in Deutschland an. Sie wurden in den 1950/1960er Jahren aus guten Gründen gegründet, doch heute ist der Anteil derer, die dort beschäftigt sind und auf den ersten Arbeitsmarkt wechseln können, im Promillebereich. Die Mitarbeiter in den Werkstätten arbeiten deutlich unter dem Gehalt des Mindestlohns und haben keine Arbeitnehmerrechte.“ Hier sieht Katrin starken Handlungsbedarf.

Politische Teilhabe von Menschen mit Behinderungen

Katrin Langensiepen plädiert dafür, dass mehr Menschen mit Behinderungen Kandidaturen für politische Ämter, auch über Ehrenämter hinaus, wagen sollten. Auch das Engagement in NGOs und als Blogger für die Community der Menschen mit Behinderungen bieten Mitwirkungsmöglichkeiten. Katrin ist zudem wichtig, dass Menschen mit Behinderungen, egal ob blind oder hörbehindert, also unabhängig von der Behinderungsart, mit einer Stimme sprechen. Aus dem Plenum des Webinars kommt dann noch die Frage eines Zuhörers aus Hamburg, der wissen möchte, wie sich die Corona-Situation auf die Behindertencommunity auswirken werde. „Auch hier“, so Katrin, „erleben wir zum Teil einen Rollback. Die geschlossenen Einrichtungen bringen auch große Nachteile mit sich“.

Solidarisches Europa

Auf die abschließende Frage, ob in Europa auch im Hinblick auf den Erfolg von Rechtspopulisten die soziale oder die ökologische Frage die entscheidende sei, antwortet Katrin: „ Das solidarische Europa ist der Kitt, der die EU zusammenhält.“ Aber die ökologische und die soziale Veränderung müssen in Europa in jedem Fall zusammengedacht werden, so ihr Credo. Dabei warnt sie aber davor, dass Bildung alle Probleme lösen könne. „Bildung ist wichtig, um Gerechtigkeit zu schaffen,“ Aber sie sei nicht der hundertprozentige Weg zum Erfolg. Vielmehr würden auch Herkunft, Geld, familiärer Hintergrund usw. eine wichtige Rolle spielen.

Inklusion ist noch ein langer Weg

Wir sind uns einig, dass es zur Umsetzung der Inklusion noch ein weiter Weg sein wird. Die Interviewpartner Konstantin und Florian vom AK Europa und die Europaabgeordnete Katrin Langensiepen freuen sich nach diesem sehr gelungenen und authentischen Austausch gemeinsam noch mit einem Schluck Wein anstoßen zu können.

Autor: Konstantin Schwarzmüller

Konstantin, 43 Jahre, engagiert sich gerne leidenschaftlich für Europathemen und Sozialpolitik. Als Mensch mit Behinderung arbeitet er in einer Apotheke und in der Bibliothek eines Max-Planck-Institutes. Bei den letzten beiden Kommunalwahlen war Konstantin Kandidat der Liste von Bündnis 90/ Die Grünen und hat in Freiburg für den Behindertenbeirat kandidiert. Bald will er seine Erfahrungen als Mensch mit Behinderung in einem kleinen Buch veröffentlichen.

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