Lokale Brücken der Verständigung: Erinnerungskultur(en) im Wandel

GIF Sonderreihe zur Erinnerungskultur in Deutschland

Das Ziel ist erreicht: 2018 vom Gemeinderat beschlossen, eröffnete die Stadt Freiburg am 20. März 2025 im ehemaligen Verkehrsamtsgebäude das „Dokumentationszentrum Nationalsozialismus“ (DZNS). Es ist ein wichtiger Meilenstein in der lokalen Erinnerungskultur – Anlass genug für uns „Grüne in Freiburg“, zu fragen, von welchen Werten eine lokale Erinnerungskultur geleitet sein soll und welches besondere Potenzial die Erinnerungskultur auf lokaler Ebene besitzt.  Der folgende Artikel fasst in der Rückschau alle Artikelbeiträge zur Sonderreihe des Online Magazin GIF „Grün in Freiburg“, die im Hinblick auf die Eröffnung des DZNS in den vergangenen zwei Jahren mit unterschiedlichen Fragestellungen veröffentlicht wurden, zusammen und bettet sie in den aktuellen Debattenkontext ein.

Für eine Gesellschaft, die sich an den demokratischen Werten der Menschenwürde, der Vielfalt und des gewaltfreien Interessensausgleichs orientiert, ist die Art und Weise, wie man sich an die eigene Geschichte erinnert, von fundamentaler Bedeutung. Denn wenn sich eine Gesellschaft mit der eigenen Vergangenheit beschäftigt, so führt sie immer einen Dialog mit sich selbst: Wo kommen wir her? Was unterscheidet uns von anderen? Vor allem: Welche Werte wollen wir vertreten? An was wollen wir uns positiv erinnern, welche Ereignisse bewerten wir negativ? In welche historische Kontinuitätslinie wollen wir uns stellen?

Je nachdem, für welche politischen Traditionen und Werte wir uns entscheiden, entscheiden wir uns auch für oder gegen eine bestimmte politisch-gesellschaftliche Ordnung, für oder gegen die Demokratie. Die angemessene Erinnerung an den Nationalsozialismus, seine Verbrechen und das extreme Leid, das er verursacht hat, ist daher – als Negativgeschichte – ein unverzichtbarer Baustein für die Demokratiebildung.

Gleichwohl befindet sich die Erinnerungskultur in den letzten Jahren in einem starken Wandel. So sind nicht nur viele Menschen nach Deutschland eingewandert und zu Bürgerinnen und Bürgern unseres demokratischen Gemeinwesens geworden, die ganz andere Gewaltgeschichten und Gewalterfahrungen mitbringen. Einige Vertreter*innen der postkolonialen Geschichtswissenschaft erheben gegenüber der aktuellen Praxis der deutschen Erinnerungskultur außerdem den Vorwurf, sie sei zu einseitig auf den „Holocaust“ ausgerichtet und blende andere Verbrechen wie den deutschen und europäischen Kolonialismus in Afrika und dessen brutale Kriege zu sehr aus.

Neue Gewaltgeschichten und Genozide verlangen ebenfalls unsere Empathie

Inzwischen hat sich die Diskussion über die „richtige“ Art des Erinnerns weiterentwickelt und ausdifferenziert. Viele Wissenschaftler*innen und Publizist*innen kommen zu dem Ergebnis, dass sich die verschiedenen Erinnerungskulturen nicht gegenseitig ausschließen und entwerten müssen. Vielmehr zeigt sich, dass sich die Erinnerungen an unterschiedliche historische Gewalterfahrungen wechselseitig befruchten können – unter der Voraussetzung, dass die Gewaltgeschichte des anderen in ihrem eigenen Eigenwert anerkannt wird. Das bedeutet auch, dass die Feststellung der Singularität des „Holocaust“ – sie liegt in dem unbedingten Willen der Auslöschung einer ganzen Gruppe – keineswegs dazu führt, andere historische Gewalterfahrungen und Genozide auszublenden oder kleinzureden. Im Gegenteil: Eine „multidirektionale Erinnerung“ (Michael Rothberg), die verschiedene Gewaltphänomene miteinander vergleicht (was keine Gleichsetzung bedeutet!) und die Erinnerung an den „Holocaust“ mit anderen Gewalterfahrungen verschränkt, befördert das gegenseitige Verständnis für die jeweiligen Traumata – Empathie für das Leid der einen Verfolgtengruppe erzeugt Empathie für das Leid der anderen, wie es die Leiterin des Münchner NS-Dokuzentrums Mirjam Zadoff formuliert hat.

Verschiedene historische Erinnerungen stehen also nicht in Konkurrenz zueinander, sondern ergänzen sich gegenseitig positiv. Gerade die lokale Erinnerungskultur vermag hier besonders viel zu leisten, da sich die Erinnerungsakteure im lokalen Erinnerungsraum direkt begegnen und in einen Dialog miteinander treten können, bei dem die verschiedenen Traumata der Ausgrenzung und Verfolgung zur Sprache gebracht werden. Damit wird überhaupt erst die Voraussetzung dafür geschaffen, ein Bewusstsein für die Gewalterfahrung des Anderen zu entwickeln. So werden lokale Erinnerungskulturen zu Brücken der Verständigung zwischen Bürgerinnen und Bürgern unterschiedlicher Herkunft und Religion.

Ergänzung statt Konkurrenz – die Beiträge für die GIF Sonderreihe Erinnerungskultur

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Einerseits an die Schrecken des „Holocausts“ zu erinnern und sie für die Demokratiebildung nutzbar zu machen, andererseits andere historische Gewalterfahrungen zur Sprache zu bringen und zu einem fruchtbaren Dialog zwischen den verschiedenen Erinnerungskulturen zu kommen: Diese doppelte Bedeutung lokaler Erinnerungskultur spiegelt sich wie ein Leitmotiv in den Beiträgen der GIF-Sonderreihe wider. So schildert das langjährige Grünen-Mitglied Nicola Hanefeld in ihrem Beitrag „Das Unsagbare“, wie sie erst sehr spät darauf stieß, dass sie aus einer deutschsprachigen tschechisch-jüdischen Familie stammte, die nach der Besetzung der Tschechoslowakei 1939 vor den Nationalsozialisten fliehen musste. Für sie bietet das Erzählen bewegender Einzelschicksale wie das ihrer Familie vor allem die Möglichkeit, den heute Lebenden den „Holocaust“ emotional viel näher zu bringen als es abstrakte Zahlen zu zigtausenden von Ermordeten oder ritualisierten Gedenktage vermögen.

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Rosita-Dienst-Demuth war langjährige Leiterin der Geschichts-Werkstatt an der Freiburger Lessing-Realschule, der ehemaligen Zwangsschule für jüdische Kinder. Sie erzählt, wie die Auseinandersetzung mit dem Schicksal der jüdischen Kinder im Nationalsozialismus die Familien von Einwander*innen und von Deutschen dazu bewegte, sich mit dem eigenen Flüchtlingsschicksal bzw. mit der Rolle der Familienangehörigen während der NS-Herrschaft zu beschäftigen. Ihre ermutigende Erfahrung: Die Erinnerung an das Fluchtschicksal jüdischer Kinder schärft nicht nur das Bewusstsein für die Folgen von gruppenbezogener Ausgrenzung, sondern weckt auch ein Gefühl der solidarischen Verbundenheit unter Einwander*innen und erzeugt wechselseitige Empathie zwischen der israelischen und muslimischen Bevölkerung.

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Für Julia Wolrab, die Leiterin des Freiburger DZNS, dient die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit nicht zuletzt als mahnendes Beispiel, wie schnell Menschen zu grausamen Verbrechen fähig sind, wenn politische und gesellschaftliche Strukturen rassistische oder antisemitische Einstellungen befördern, statt sie zu bekämpfen. Sie betont in ihrem Interview mit GIF, dass gerade die lokale NS-Geschichte Jugendliche dazu bewegen kann, sich mit der Geschichte des Nationalsozialismus zu beschäftigen: Was ist in meinem eigenen Viertel zwischen 1933 und 1945 passiert? Wie haben sich meine Vorfahren im Nationalsozialismus verhalten? Ebenso sieht sie historische Bildung, wie sie im DZNS geleistet wird, als Mittel, um den Blick für gegenwärtigen Antisemitismus, Rassismus oder gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit zu schärfen und die stereotypen Bilder vom Anderen, die wir alle im Kopf haben, zu hinterfragen – ohne die verschiedenen Formen der Diskriminierung miteinander gleichzusetzen.  

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Die Bedeutung des Erinnerns an die NS-Herrschaft für das Zusammenleben in unserer heutigen Gesellschaft steht auch im Mittelpunkt des Interviews, das die Freiburger Landtagsabgeordnete Nadyne Saint-Cast mit der Landtagspräsidentin Muhterem Aras (beide Bündnis 90/die Grünen) geführt hat. Die Anschläge auf Wohnhäuser von Migrant*innen und Asylunterkünfte Anfang der 1990er-Jahre, bei denen die Angreifer den Hitler-Gruß zeigten, waren 1993 Anlass für Aras, sich politisch zu engagieren. Für die Landtagspräsidentin gilt seitdem: Die humanitären Werte des Grundgesetzes, das 1948/49 unter dem Eindruck der Menschheitsverbrechen des NS-Regimes verfasst worden ist, müssen entschieden gegen rechtsextreme Angriffe vereidigt werden. Die finanzielle Förderung der über 70 Gedenkstätten in Baden-Württemberg für moderne Ausstellungen und neue digitale Vermittlungsformen ist daher in den letzten zwölf Jahren zu einem Herzensanliegen der baden-württembergischen Landesregierung geworden.

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Der „Gräuel der NS-Zeit“ zu gedenken, halten auch Jonathan Ben Shlomo und Karim Saleh in ihrem gemeinsamen GIF-Interview für absolut notwendig. Doch machen beide auch auf die Leerstellen der deutschen Erinnerungskultur aufmerksam. So führt für Jonathan Ben-Shlomo, der aus einer jüdischen Familie stammt, die intensive Erinnerung an die Shoa zu einem Festzementieren des Diskurses über die Juden als Opfer der Nationalsozialisten. Demgegenüber müsse die Erinnerung an die Judenverfolgung im nationalsozialistischen Deutschland immer auch eine Brücke zur Gegenwart schlagen und stets die Vielfalt heutigen jüdischen Lebens in Deutschland sowie „jüdische Perspektiven und Stimmen aus dem Hier und Jetzt“ miteinbeziehen. Auch gelte es, muslimische Migrant*innen, die sich von bestehenden Erinnerungsinitiativen nicht angesprochen fühlen, durch lokale Bezüge zur NS-Herrschaft für den „Holocaust“ zu sensibilisieren. Laut Karim Saleh, muslimischer Gemeinderat der grünen Fraktion, reicht es nicht aus, einmal jährlich in eine KZ-Gedenkstätte zu fahren. Stattdessen sollte in der deutschen Erinnerungskultur das Verbindende, das Gemeinsame zwischen jüdischen und nichtjüdischen Bürger*innen herausgearbeitet werden. Beide unterstreichen in diesem Zusammenhang die Singularität des „Holocaust“, die für Saleh in der systematischen Vernichtung vom Säugling bis zum Greis und in der Darstellung des Juden als staatszersetzenden Schädling besteht.

Der „Holocaust“ ist und bleibt ein „ein nie da gewesener Zivilisationsbruch“ (Ben-Shlomo). Dennoch: Für beide Interviewpartner steht diese Singularität nicht im Widerspruch dazu, andere Opferperspektiven – etwa im Schulunterricht – einzunehmen und an das Verfolgungsschicksal von anderen Minderheiten wie etwa Kurd*innen, Bosniak*innen oder Uigur*innen zu erinnern.

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Wie das Gedenken an die Shoah mit der Anerkennung von Opfern deutscher Kolonialkriege wie den Herero und Nama verbunden werden kann, ist Thema des Beitrags von Heiko Wegmann. Wegmann, der sowohl zur lokalen NS- als auch zur Freiburger Kolonialgeschichte forscht, plädiert in Anlehnung an Michael Rothberg für eine multiperspektivische Erinnerungskultur, bei der die Erinnerungen an verschiedene Gewaltgeschichten miteinander in Dialog treten. So könne das Besondere der jeweiligen Gewaltgeschichte umso schärfer herausgearbeitet werden. In seinem Beitrag nennt Wegmann auch Beispiele für die Erinnerung an die lokale Kolonialgeschichte und die Verknüpfung von nationalsozialistischen und kolonialistischen Verbrechen. So wird im Dokuzentrum die Rolle der Stadt Freiburg bei der Reichskolonialtagung 1935 behandelt. Zugleich schlägt Wegmann ein Denkmal im öffentlichen Raum vor, das an die Opfer deutscher Gewalt in den Kolonien von West- und Ostafrika erinnert.

Fazit

Die Interviews und Beiträge in der GIF-Sonderreihe zur deutschen Erinnerungskultur machen deutlich: Nicht in der Konkurrenz, sondern in einem Austausch, welcher Unterschiede nicht leugnet, sondern das Besondere mit dem Allgemeinen verbindet – darin liegt das fruchtbare Potenzial einer künftigen Erinnerungskultur. Dabei können gerade im lokalen Kontext verschiedene Gewaltgeschichten miteinander in Bezug gebracht und die unverletzliche Würde des Menschen als Kern einer universellen Ethik herausgearbeitet werden. In diesem Sinne wünschen wir – Antigone Kiefner und Robert Neisen als Initiator*innen und Verantwortliche der GIF-Sonderreihe „Erinnerungskultur“ – den Leser*innen der Artikel einige neue Erkenntnisse und dem Freiburger NS-Dokuzentrum bei seiner unverzichtbaren Arbeit viel Erfolg.

Robert Neisen

Promovierter Historiker. Er kuratierte 2016/17 die Ausstellung „Nationalsozialismus in Freiburg“ im Freiburger Augustinermuseum und verfasste zahlreiche Lokalstudien zum Nationalsozialismus in Südbaden.

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