„Der Krieg hat alles verändert“

Die Ukraine, die Grünen, die Zivilgesellschaft und vieles mehr: Nikolaus Andrusyk, Mitglied im grünen Kreisverband Freiburg, kommt aus Freiburgs ukrainischer Partnerstadt Lviv (Lemberg). Er lebt seit einigen Jahren in Schluchsee, wo er als Physiotherapeut arbeitet. Im Gespräch mit dem GIF erzählt er, was ihn derzeit bewegt.

GIF: Lieber Nikolaus, wir essen gerade Schwarzwälder Kirschtorte und genießen gemeinsam den idyllischen Blick auf den Schluchsee. Doch die Situation ist alles andere als idyllisch. Deine Gedanken sind zurzeit in der Ukraine.

Nikolaus: Ja, viele Verwandte, Freunde und Bekannte kämpfen dort oder harren aus. Ich weiß von vielen nicht, wie es ihnen geht, sie dürfen keine Nachrichten senden, um keine Standorte zu verraten. Dass Männer zwischen 18 und 60 Jahren nicht ausreisen dürfen, ist eine sehr harte aber wie ich finde richtige Entscheidung. Es gibt sehr viele Freiwillige, die in Reserve stehen und auf einen Einsatz warten. Ich persönlich bin sehr erleichtert, dass meine Eltern nun auch nach Deutschland gekommen sind. Ihre Wohnung in Lemberg wurde durch die Druckwellen eines russischen Raketenangriffes beschädigt. Ich bin natürlich hier vor Ort aktiv bei Kundgebungen und Spendenaktionen und unterstütze, so gut ich kann. Dass in der Ukraine so viele Menschen spenden und helfen, dass Präsident, Regierung, Parlament, Militär und Bevölkerung zusammenhalten, ich hätte nie gedacht, dass dies möglich ist.

GIF: Wie stehst du zu den Waffenlieferungen an die Ukraine?

Nikolaus: Jedes Land hat das Recht auf Frieden und Selbstverteidigung. Ich bin froh, dass Deutschland Waffen liefert. Vor dem Krieg war ich gegen Waffenlieferungen. Ich war auch immer gegen Militärausgaben in der BRD. Das Geld sollte in Bildung und Gesundheit investiert werden. Jetzt baut mein Freund in Lemberg, ein IT-Fachmann, Molotowcocktails. Der Krieg hat alles verändert – auch viele meiner Gewissheiten und Überzeugungen.

Das deutsche Gesetz sollte überprüft werden. Was ist ein Konfliktgebiet?

GIF: Du hast dich 2013/2014 auch auf dem Maidan politisch engagiert und diese Revolution hautnah miterlebt. Wie bewertest du die Entwicklung seither in der Ukraine?

Eine Revolution wie auf dem Maidan ist nur die eine Hälfte einer gewünschten Veränderung. Danach muss man ja auch die andere Hälfte aufbauen, damit meine ich Reformen, Aufbau einer aktiven Zivilgesellschaft, NGOs etablieren, stabile und effiziente Verwaltungsstrukturen einführen etc.  Hier hat es nach dem Maidan noch gefehlt in der Ukraine. Es ist insgesamt zu wenig passiert. Ich war enttäuscht. Es braucht viele freiwillige Organisationen und Vertrauen unter den Menschen, damit ein demokratischer Staat funktioniert. „Active citizenship“ – also die aktive Bürgerbeteiligung und Sensibilisierung der Bevölkerung für die Bedeutung sozialer Beteiligung für die Gesellschaft – das hat sich aus meiner Sicht nach dem Maidan noch zu wenig entwickelt.

GIF: Warum lebst du in Deutschland und was fasziniert dich hier am meisten?

Nikolaus: Drei Gründe haben mich bewogen, nach Deutschland zu ziehen: Die Demokratie, der Arbeitsmarkt und die Natur.  Mich beeindruckt sehr, wie stark die Zivilgesellschaft hier ist. Man schließt sich zusammen, um gehört zu werden. Es gibt in Deutschland viele Vereine, Berufsverbände, NGOs und ein großes zivilgesellschaftliches Engagement. Sie alle unterstützen und stärken das gesellschaftliche Zusammenleben und die Demokratie. Das finde ich faszinierend hier zu erleben.

GIF: Wie schaust du auf die politische Arbeit von Bündnis 90/Die Grünen?

Nikolaus: Zunächst muss ich sagen: Ich bin stolz auf Robert Habeck und Annalena Baerbock. Beide machen einen großartigen Job. Übrigens: Auch alle meine Patient*innen hier oben im Schwarzwald äußern sich mittlerweile sehr positiv über Annalena und Robert. Das klang vor einem halben Jahr noch ganz anders. Im Wahlkampf habe ich Daniela Evers aktiv unterstützt, nicht zuletzt, weil ich finde, dass wir Grünen ein beeindruckendes Parteiprogramm entwickelt haben. Was mir am meisten gefällt: Die Grünen engagieren sich für Menschen, von denen sie nicht gewählt werden können, bzw. die kein Wahlrecht haben wie etwa Flüchtlinge oder viele Sinti und Roma. Das finde ich toll. Sie unterstützen Menschen jenseits des eigenen Wählerklientels. Der Kampf für Gleichberechtigung und Schutz aller Minderheiten – das gefällt mir sehr.

GIF: Wo siehst du grüne Defizite?

Nikolaus: Ich finde, den Grünenfehlt das Verständnis dafür, wie wichtig moderne Medienkommunikation ist. Junge Menschen lesen keine Zeitung mehr. Sie sind erreichbar über youtube. Die Grünen haben auf youtube zu wenige Follower. Die Grünen sind jung und modern, aber sie sind noch zu wenig aktiv auf der beliebtesten Plattform.

GIF: Du engagierst dich für digitale Medien und Bildung und hast in der Ukraine ehrenamtlich eine Wissens-Plattform mitgestaltet.

Nikolaus: Ja, im Bereich Non Formal Education habe ich eine Redaktion organisiert und geleitet. Wir haben komplizierte wissenschaftliche Inhalte in eine leicht verständliche Sprache übersetzt und über Plattformen im Internet verbreitet. Damit konnten wir viele Jugendliche und junge Menschen erreichen. Digitalisierung ist generell in der Ukraine Standard. Wir haben ein Ministerium für Digitales, bezahlen seit einigen Jahren mit Face-ID, also mit Gesichtserkennung, und „der Staat im Smartphone“ bedeutet die digitale Abwicklung der meisten bürokratischen Abläufe für Bürgerinnen und Bürger. Glasfaser gibt es in den ländlichen Gebieten der Ukraine schon seit über zehn Jahren, in den großen Städten noch viel länger. Ukrainische geflüchtete Schülerinnen und Schüler nehmen jetzt in Deutschland online an ihrem Schulunterricht im Heimatland teil. Diese Plattformen für digitalen Unterricht wurden während der Pandemie entwickelt und jetzt im Krieg weiter verbessert.

GIF: Welche Ziele hast du für deine Zukunft?

Nikolaus: Ich denke, ich werde mich noch stärker gesellschaftspolitisch engagieren. Vielleicht in der Ukraine. Vielleicht in Deutschland. Ich spüre die Verantwortung, die Ukraine mitzugestalten zu einer aktiven Zivilgesellschaft. Ich beschäftige mich mit meinem Verhältnis zum Staat, mit meinem staatsbürgerlichen Verständnis: Es ist ein Geben und Nehmen zwischen dem Staat und dem Bürger. Ich habe selbst profitiert von Steuergeldern und möchte das der Gesellschaft zurückgeben. Mal schauen, die nächste Etappe wird vielleicht ein Fernstudium in Hagen sein. Politik- und Verwaltungswissenschaft und Soziologie. Mich interessieren die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Strukturen sowie Prozesse einer Gesellschaft.

GIF: Vielen Dank für das Gespräch lieber Nikolaus!

Nikolaus Andrusyk

Nikolaus Andrusyk lebt mit seiner Frau seit einigen Jahren in Schluchsee, wo er als Physiotherapeut arbeitet. Er studierte Gesundheitsmanagement und lebte in Polen und in der Türkei.

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